Bei extremistischen Straftaten wird häufig die Frage gestellt, ob der oder die Täter*in vor allem aus ideologischen Gründen gehandelt hat oder aufgrund einer psychischen Störung. In Folge #16 von KN:IX talks sprechen wir mit der forensischen Psychiaterin Dr. Nahlah Saimeh über den Zusammenhängen und Wechselwirkungen von psychischer Verfasstheit und Radikalisierung.

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Im Rahmen unseres Fachgesprächs am 15. Juni 2023 haben wir uns dem Thema „Christlicher Fundamentalismus“ gewidmet. Während vor allem in den Medien fast ausschließlich über Islamismus gesprochen wird, finden andere Formen von religiösen Fundamentalismus, wie etwa in seiner christlichen Ausprägung, wenig Beachtung. (mehr …)

In unserer Arbeit setzen wir uns seit Jahren für eine Berücksichtigung struktureller Faktoren von Radikalisierung ein und widmen uns diesem Thema auch bei unserem diesjährigen Politik- und Pressegespräch am 14. August 2023. (mehr …)

Langfristige Herausforderungen für die Präventionsarbeit in Deutschland

Autorinnen: Ulrike Hoole und Jamuna Oehlmann (BAG RelEx) [*]

Seit dem weitgehenden Verlust der Territorien seines selbst proklamierten Kalifats und eines sicheren Rückzugsorts für die Planung großer Anschläge auch im Westen, ist es um den sogenannten Islamischen Staat (IS) in der deutschen Öffentlichkeit still geworden. Als im April 2022 der Sprecher des IS zu einer globalen Anschlagskampagne während des Ramadans aufforderte,[1]  tauchte dies nur als kleine Meldung in deutschen Medien auf – obwohl im Aufruf explizit formuliert wurde, dass IS-Anhänger*innen die „Gelegenheit“, dass Russland und der Westen derzeit mit sich selbst beschäftigt seien, für Anschläge in Europa nutzen sollten (FAZ 2022). Tatsächlich ist der IS heute sehr viel dezentraler organisiert. Grund genug zu fragen, welche Relevanz diese globale Entwicklung in Deutschland und für die Präventionsarbeit hat.

Seit dem weitgehenden Verlust der Territorien seines selbst proklamierten Kalifats und eines sicheren Rückzugsorts für die Planung großer Anschläge auch im Westen, ist es um den sogenannten Islamischen Staat (IS) in der deutschen Öffentlichkeit still geworden. Als im April 2022 der Sprecher des IS zu einer globalen Anschlagskampagne während des Ramadans aufforderte,[1] tauchte dies nur als kleine Meldung in deutschen Medien auf – obwohl im Aufruf explizit formuliert wurde, dass IS-Anhänger*innen die „Gelegenheit“, dass Russland und der Westen derzeit mit sich selbst beschäftigt seien, für Anschläge in Europa nutzen sollten (FAZ 2022). Tatsächlich ist der IS heute sehr viel dezentraler organisiert. Grund genug zu fragen, welche Relevanz diese globale Entwicklung in Deutschland und für die Präventionsarbeit hat.

Der Verlust der territorialen Basis seines „Kalifats“ und die Desillusionierung vieler Anhänger*innen haben den IS stark geschwächt. Auch die Zahl der geplanten und der durchgeführten Anschläge in Europa ist seit 2017 stark zurückgegangen (Steinberg 2021: 36). Dennoch ist der IS weiterhin aktiv. So wurde etwa der Aufruf zu einer Kampagne während des Ramadans weltweit aufgegriffen, und der IS intensivierte seine Angriffe in verschiedensten Regionen der Welt (Kittleson 2022). Die Organisation hat in den vergangenen Jahren zahlreiche lokale Ableger geschaffen und ist heute weit dezentraler strukturiert. Dabei verdienen die Entwicklungen in einigen Regionen besondere Aufmerksamkeit.

Globale Entwicklung des sogenannten Islamischen Staats

Afghanistan: Vor allem durch den Rückzug der NATO-Truppen ist beim IS-Ableger in Afghanistan seit 2021 eine dynamische Entwicklung zu beobachten. So hat sich in der Konsequenz der Truppenabzüge seit August 2021 der Handlungsspielraum der regionalen Organisation „Islamische Provinz Khorasan“ (ISIS-K) vergrößert, was sich an einer seither gestiegenen Anzahl von Anschlägen im Land zeigt (Steinberg 2021:37). Allerdings ist der IS aus ideologischen und machtpolitischen Gründen mit den Taliban verfeindet. Deren Regierung hat die Bekämpfung des IS zur Priorität erklärt und ihn in weiten Teilen Afghanistans zurückgedrängt (Refslund Hamming 2022; Bundesministerium des Innern und für Heimat 2022a: 184). Die vermehrte Zahl von IS-Anschlägen im Land lässt jedoch Zweifel daran aufkommen, ob die Taliban wirklich in der Lage sind, die dortigen IS-Zellen nachhaltig zu bekämpfen und in dieser Hinsicht stabile Sicherheit zu garantieren – zumal die schlechte wirtschaftliche und politische Situation in Afghanistan dem IS-Ableger ein wachsendes Rekrutierungspotenzial bietet.

Afrikanischer Kontinent: Seit der IS in seinen Kerngebieten Irak und Syrien zurückgedrängt wurde, liegt ein besonderer Fokus der Organisation auf dem afrikanischen Kontinent, wo in unterschiedlichen Regionen Ableger gegründet wurden (CTED 2021: 5). Dabei gibt es Netzwerke zwischen den Ablegern auch über den Kontinent hinaus: In seiner Propaganda demonstriert der „Islamische Staat in Westafrika“ (ISWAP) sowohl die Verbindung zur Sahel-Region als auch zur Kernorganisation des IS (CTED 2021: 10). Die aus der weiter bestehenden islamistischen Gruppierung Boko Haram hervorgegangene Organisation kooperiert mit lokalen Gruppen und instrumentalisiert bestehende Missstände wie Korruption, Arbeitslosigkeit und unzulängliche Regierungsführung, um Anhänger*innen zu rekrutieren und fehlendes Vertrauen in staatliche Kräfte weiter zu bestärken (CTED 2021: 12). Insgesamt ist die Tendenz terroristischer Anschläge durch den IS in Afrika steigend (CTED 2021: 5) So hat der ISWAP im ersten Quartal 2022 mehr Anschläge verübt als jeder andere IS-Ableger (Zenn 2022: 1). Weitere bedeutende Ableger sind der „Islamic State in Central Africa Province“ (ISCAP) und der „IS Greater Sahara“ (ISGS).

Irak und Syrien: Auch in seiner Kernregion, vor allem im Norden und Nordwesten des Irak und im Osten Syriens ist der IS weiterhin aktiv und verfügt über zahlreiche Kämpfer (Schätzungen schwanken zwischen 4.000 – 10.000). Dabei profitiert die Organisation von der instabilen politischen und prekären wirtschaftlichen Situation in beiden Ländern (Hodali 2022, Almohamad 2021: 5f.). Zu den potenziellen IS-Unterstützer*innen müssen insbesondere auch die in Gefängnissen und Lagern in der Region inhaftierten (teilweise ehemaligen) IS-Anhänger*innen besonders in Nordostsyrien gezählt werden. Deren Situation und die ihrer Familien ist weiterhin prekär und bietet den Nährboden für eine (Re-)Radikalisierung, weshalb der IS diese Camps infiltriert und genau hierauf abzielt (Almohamad 2021: 6ff.). Ereignisse wie der Angriff auf ein Gefängnis im Nordosten Syriens im Januar 2022, bei dem einige hundert dort inhaftierte IS-Kämpfer befreit werden konnten (Schmidinger 2022b), weisen auf die große Bedeutung hin, welche die Gefängnisse und Lager für die Rekrutierung haben. Durch den aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine sind zudem Machtverschiebungen in der Region möglich, die sich auch auf die Entwicklung dschihadistischer Gruppierungen, vor allem in Syrien auswirken könnten. Hier besteht eine Gefahr darin, dass durch den Konflikt zwischen den USA und Russland die ohnehin prekären Waffenstillstände nicht längerfristig halten werden und das entstehende Sicherheitsvakuum von einem wiedererstarkenden IS ausgefüllt werden könnte (Schmidinger 2022a). Ein weiteres Risiko bestünde in der bereits angekündigten neuen Offensive der Türkei gegen die kurdischen Kräfte in Nordsyrien. Eine solche Offensive würde den Kampf gegen den IS in der Region schwächen, bei dem die kurdischen Kräfte eine wichtige Rolle spielen, und die Region zusätzlich destabilisieren (Vugteveen/Farrell-Molloy 2022).

Auswirkungen auf Deutschland …

Global gesehen erhöhte sich zuletzt die Zahl von IS- Anschlägen (Kittleson 2022). Dabei scheinen sich die IS-Ableger in Afrika und Afghanistan überwiegend auf regionale Ziele zu fokussieren und stellen damit keine direkte Bedrohung für die europäische Sicherheit dar (Merz 2022: 4). So zeigte auch der im April lancierte Aufruf zu einer Rachekampagne in Europa (siehe oben) bisher keine unmittelbaren Auswirkungen. Zudem ist bisher der von manchen befürchtete Anstieg deutscher Ausreisender nach Afghanistan nach der Machtübernahme durch die Taliban ausgeblieben (Flade 2022). Dennoch könnten die Propaganda und die Aufrufe der Kernorganisation des IS zu Anschlägen in Europa von einzelnen internationalen Ablegern und individuellen Anhänger*innen durchaus aufgegriffen werden. Auffällig ist jedenfalls, dass Anschläge in Europa, die durch dschihadistische Akteur aus dem Ausland angeleitet oder inspiriert waren, in den vergangenen Jahren im Vergleich zur Zahl von solchen Anschlägen an Bedeutung zugenommen haben, die direkt durch dschihadistische Gruppierungen organisiert und durch Personen verübt werden, die aus Konfliktgebieten eingereist waren (Steinberg 2021: 28ff.).

Sollten sich die Entwicklungen in den beschriebenen Konfliktzonen fortsetzen, stiege in der Folge auch die Fähigkeit des IS, in Europa Anschläge auszuführen oder anzuleiten (Merz 2022: 4). Denn der IS ist heute in deutlich mehr Ländern präsent als zu den Hochzeiten des selbst ausgerufenen Kalifats. Lokale Entwicklungen, wie beispielsweise der US-Truppenabzug in Afghanistan, könnten schnell dazu führen, dass einzelne IS-Ableger wieder erstarken – was auch bedeuten kann, dass diese ihren Aktionsradius wieder ausweiten (Steinberg 2021: 36f.).

Auch die erwähnte prekäre Situation der in Syrien und im Irak inhaftierten (ehemaligen) IS-Anhänger*innen ist dabei mit der Sicherheitslage in Deutschland und Europa verbunden, da eine nicht unerhebliche Zahl von ihnen selbst aus Europa stammt. Je länger diese Personen nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden, als desto wahrscheinlicher muss die Verhärtung ihrer extremistischen Einstellungen eingeschätzt werden (Merz 2022: 3).

… und für die zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit

Dass dschihadistische Gruppen nicht mehr so stark im Fokus von Öffentlichkeit und Politik stehen wie noch vor einigen Jahren, hat für den Arbeitsalltag zivilgesellschaftlicher Träger durchaus positive Folgen, da Präventionsakteur*innen mit weniger Alarmismus hinsichtlich (tatsächlicher oder vermeintlicher) Anzeichen islamistischer Radikalisierung konfrontiert sind. Neben allen Chancen für eine nachhaltige Präventionsarbeit, die diese Situation vor allem im Rahmen universeller Prävention bietet, bleibt es jedoch wichtig, globale Entwicklungen und ihre Auswirkungen im Feld nicht aus dem Blick zu verlieren. Kontinuierliches Monitoring von globalen und nationalen Entwicklungen sowie der Wissenstransfer in Politik und Praxis sind weiterhin notwendig – hat sich in der Vergangenheit doch immer wieder gezeigt, dass dschihadistische Bewegungen sich stetig verändern, anpassen und sowohl in als auch außerhalb von Konfliktzonen (wie in Deutschland) erneut an Popularität gewinnen können. Vor diesem Hintergrund führt KN:IX alljährlich ein Monitoring mit Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen im Themenfeld durch. Ihre Beobachtungen und Erfahrungen ermöglichen eine kontinuierliche Übersicht der Entwicklungen und bieten die Grundlage dafür, zielgerichtete Angebote für die unterschiedlichen Zielgruppen zu kreieren. Meist sind es die Praktiker*innen, die – online oder offline – einen direkten Draht zu Zielgruppen haben und die somit häufig als erste neue Trends beobachten.[2]

Bereits in der Vergangenheit hatten die Entwicklungen beim IS direkten Einfluss auf die zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit. So stand diese noch vor ein paar Jahren stark unter dem Eindruck des Erschreckens, das die Ausreisewellen junger Menschen aus Deutschland und Europa in der Gesellschaft und vor allem bei nahen Angehörigen auslöste. Damals waren insbesondere die Träger der Tertiärprävention stark ausgelastet und mussten viele Fälle gleichzeitig bearbeiten. Heute liegt der Fokus ihrer Arbeit stärker auf der Reintegration von Rückkehrer*innen, ihren Familien sowie der langfristigen Begleitung ehemaliger Anhänger*innen des IS.

Die oben skizzierten aktuellen internationalen Entwicklungen des IS sind in Deutschland vor allem auf digitalen Kanälen und in den sozialen Medien sichtbar. Dabei handelt es sich nicht mehr um brutale Propagandavideos, die von den Plattformbetreibern mittlerweile sehr schnell gelöscht werden. Dennoch ist nach wie vor Videomaterial des IS im Internet zu finden – zum Beispiel Videos, die islamistische Utopien inszenieren. Häufig werden dabei die Logos des IS in den Videos oder auf Bildern unkenntlich gemacht. Insgesamt ist der Diskurs um den IS sehr klandestin geworden: So vermeiden es bekannte salafistische Prediger, sich auf öffentlichen Plattformen positiv über den IS zu äußern – oder dies geschieht nur noch in verschlüsselten Chats.[3] Um der Strafverfolgung zu entgehen, nutzen Unterstützer*innen des IS verschlüsselte Messengerdienste für die Kommunikation und wechseln zwischen verschiedenen Kanälen. Dies macht es nicht nur für Sicherheitsbehörden schwierig, strafbare Inhalte zu verfolgen, sondern auch Präventionsakteur*innen ist es nicht ohne Weiteres möglich, die Diskurse und Debatten zu beobachten und sich Chatgruppen anzuschließen. Auf den gängigen und leicht zugänglichen Plattformen sind extremistische Inhalte entsprechend weniger präsent – dies bedeutet jedoch nicht, dass sie von den Akteur*innen nicht innerhalb ihrer Netzwerke weiterverbreitet würden. Zudem sind die islamistischen Inhalte insgesamt subtiler geworden und oft schwieriger als solche zu erkennen.

Diese Entwicklungen haben Implikationen für die Präventionsarbeit: So wird verstärkt auf die Förderung von Medienkompetenz gesetzt, um es Jugendlichen zu ermöglichen, Rekrutierungsversuche und Propagandamaterialien als solche zu erkennen. Außerdem setzt die Präventionsarbeit u. a. auf Gegen- oder alternative Narrative und verfolgt Peer-to-Peer-Ansätze, um vor allem Jugendliche und junge Erwachsene zu befähigen, islamistischer Ansprache und Propaganda offline und zunehmend online – etwa in Online-Communitys – entgegentreten zu können. Zu beachten ist in der Radikalisierungsprävention weiterhin, dass die oben beschriebenen globalen Konflikte und Krisen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu Verunsicherungen, psychischen Belastungen und erhöhter Vulnerabilität beitragen können. So kann auch eine als ungerecht empfundene Außenpolitik zu Sympathien mit radikalen Gruppen führen. Vor dem Hintergrund der Vielfalt von Faktoren, die Radikalisierungsprozesse auslösen und befördern können, ist es daher langfristig eine Aufgabe von Präventionsarbeit, tieferliegende Ursachen für die Anfälligkeit für extremistische Ansprachen, Angebote und Propaganda in den Blick zu nehmen und zur Förderung von Teilhabe und Zugehörigkeit beizutragen.

Der IS und andere dschihadistische Bewegungen haben sich außerhalb von Europa in konfliktbehafteten und instabilen Regionen entwickelt und sind auch weiterhin primär dort aktiv. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass dschihadistische Ideologien auch in Europa auf fruchtbaren Boden fallen können. Vor diesem Hintergrund sollte die aktuell zumindest in Deutschland ruhige Phase genutzt werden, um zu reflektieren, welche Faktoren dazu beigetragen haben, dass die Ideologie des IS auch auf Menschen in Deutschland und Europa attraktiv wirken konnte – und wie dem langfristig vorgebeugt und begegnet werden kann (Merz 2022: 4).

 

Literatur

Almohamad, Selman (2021): Not a Storm in a Teacup: The Islamic State after the Caliphate, in: GIGA Focus Middle East, No. 3, April 2021, https://pure.gigahamburg.de/ws/files/24482177/web_Nahost_2021_03_en.pdf, abgerufen am 15.06.2022.

Bundesministerium des Innern und für Heimat (2022a): Antwort auf die Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Ulla Schauws vom 18. März 2022, https://www.lsvd.de/media/doc/6810/antwort-schriftliche-frage-ulle-schauws.pdf, abgerufen am 26.08.2022.

FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (2022): IS sieht Ukrainekrieg als „Gelegenheit“ für Anschläge in Europa, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/is-siehtukrainekrieg-als-gelegenheit-fuer-neue-anschlaege-17964724.html, in: FAZ.NET, 18.04.2022, abgerufen am 15.06.2022.

Flade, Florian (2022): Afghanistan unter den Taliban: Kein Magnet für Dschihadisten, in: tagesschau.de, 23.05.2022, https://www.tagesschau.de/investigativ/wdr/afghanistan-taliban-terror-101.html, abgerufen am 15.06.2022.

Hodali, Diana (2022): Nach Tod von IS-Chef: Wie geht es weiter mit dem „Islamischen Staat“?, in: Deutsche Welle, 09.02.2022, https://www.dw.com/de/isislamischer-staat-syrien-irak-nachfolger-terrorismus/a-60706556, abgerufen am 15.06.2022.

Kittleson, Shelly (2022): Islamic State announces „revenge“ attacks during Ramadan, in: Al-Monitor, 25.04.2022, https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/islamic-state-announces-revenge-attacks-during-ramadan, abgerufen am 15.06.2022.

Merz, Fabien (2022): Der Zustand des Islamischen Staats, in: CSS Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 299. Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich, https://css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securitiesstudies/pdfs/CSSAnalyse299-DE.pdf, abgerufen am 01.06.2022.

Refslund Hamming, Tore (2022): Fractures in the Extremist Landscape: Understanding and Exploiting Jihadist Fratricide, 09.05.2022, https://mwi.usma.edu/fractures-in-the-extremist-landscape-understanding-and-exploiting-jihadist-fratricide/, abgerufen am 15.06.2022.

Schmidinger, Thomas (2022a): Welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine für den Nahen Osten?, in: Der Standard, 08.03.2022, https://www.derstandard.at/story/2000133890050/transnationale-kriegsfolgen, abgerufen am 15.06.2022.

Schmidinger, Thomas (2022b): Die Rächer des IS, in: Jungle World, 05.05.2022, https://jungle.world/artikel/2022/18/die-raecher-des, abgerufen am 15.06.2022.

Steinberg, Guido (2021): Dschihadismus in Deutschland: Schwache Anfänge, wachsende Szene, neue Gefahren, Konrad Adenauer Stiftung, Berlin.

United Nations Security Council CTED (2022): Civil Society Perspectives: ISIL in Africa – Key Trends and Developments, https://www.un.org/securitycouncil/ctc/sites/www.un.org.securitycouncil.ctc/files/files/documents/2022/Apr/cted_civil_society_perspectives_isil_in_africa_april_2022.pdf, abgerufen am 01.06.2022.

Vugteveen, Martijn / Farrell-Molloy, Joshua (2022): Turkish Military Offensive in Syria: Consequences for Counter-Terrorism Operations, https://icct.nl/publication/turkish-military-offensive-in-syria-consequences-for-counter-terrorism-operations/, abgerufen am 30.06.2022.

Zenn, Jacob (2022): Islamic State Congo Steps up Attacks in Bid to Become ist own Province, in: Terrorism Monitor Bd. 20, Nr. 8, https://jamestown.org/wpcontent/uploads/2022/04/TM-PDF-4.pdf, abgerufen am 01.06.2022.

 

Anmerkungen

[*] Dieser Beitrag erschien zuerst im KN:IX Report 2022 , der vom Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX) herausgegeben wird.

[2] Die Ergebnisse des KN:IX Monitoring vom Frühjahr 2022 finden sich im KN:IX Report 2022.

[3] Quelle: Vortrag Ahmet Numan Cakilkum „Die Rolle dschihadistischer Bewegungen in sozialen Medien“, 15.06.2022, https://www.bag-relex.de/angebot/mediathek/#6321abb94d424 (zuletzt abgerufen am 14.09.2022).

 

Die Autorinnen

Ulrike Hoole (M.A. Islamwissenschaft, MSc Middle East Politics) ist seit 2021 Fachreferentin für religiös begründeten Extremismus bei der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx). Zuvor war sie in der Primärprävention von islamistischem Extremismus an Schulen tätig.

Jamuna Oehlmann hat in Berlin, Bangkok und London Asienwissenschaften, Internationale Beziehungen und Diplomatie studiert. Zu ihren Expertisen zählen u. a. Demokratieförderung und Extremismusprävention. Sie ist Co-Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) und seit 2020 auch Koordinatorin des Kompetenznetzwerks „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).

Für das Publikationsformat Impuls, das wir im Rahmen von KN:IX veröffentlichen, suchen wir ein*en Autor*in mit Expertise zum Thema „Gruppendynamiken und -identitäten: Rolle in Radikalisierungsprozessen und Implikationen für Prävention und Distanzierungsarbeit“ für das Verfassen eines Fachartikels (25.000 Zeichen, ca. 5-10 Seiten).

Die Bewerbungsfrist endet am 04. August 2023.

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Im Rahmen der begleitenden Evaluation, die von 2020 bis 2024 im Auftrag des Kompetenznetzwerks „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX) durch IMAP GmbH durchgeführt wird, ist vor Kurzem der Zwischenbericht für 2023 erschienen. Diesen können Sie hier kostenfrei herunterladen. Die Zusammenfassung können Sie bereits in diesem Beitrag lesen.

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Chancen und Grenzen eines „neuen“ Ansatzes

Autoren: Rüdiger José Hamm und Axel Schurbohm (BAG RelEx) [*]

Die Entwicklungen der vergangenen Jahre in den Bereichen Islamismus und Rechtsextremismus sowie Beobachtungen rund um die Proteste gegen die Coronamaßnahmen haben zum einen gezeigt, dass sich die Erscheinungsformen von Extremismen ausdifferenzieren, und zum anderen, dass Überschneidungen zwischen den einzelnen Phänomenen bestehen. Dies hat Anlass zu „neuen“ Überlegungen hinsichtlich der Präventionsangebote in Deutschland gegeben und die Diskussion über phänomenübergreifende Ansätze in der Präventionsarbeit (wieder) eröffnet. Es stellt sich also die Frage, ob diese Diskussionen bereits Einfluss auf die Arbeit und die Formate der zivilgesellschaftlichen Träger zur Prävention von Islamismus genommen haben: Gibt es bereits explizit phänomenübergreifend konzipierte Angebote? Welche Vorteile ergeben sich, und wo stößt man an Grenzen?

Anfang der 2000er Jahre galt islamistischer Extremismus in öffentlichen Diskursen als relativ neues Phänomen. In den Folgejahren kamen Debatten darüber auf, ob es neben Unterschieden auch Gemeinsamkeiten auf ideologischer und organisatorischer Ebene zwischen extremistischen Phänomenbereichen gibt. Diskutiert wurde und wird nach wie vor auch die Frage möglicher Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Formen von Extremismus. Dabei stehen meist die Phänomene Rechtsextremismus und Islamismus im Mittelpunkt. Zudem machen die Entwicklungen seit Anfang der 2000er Jahre, aber auch die Anschläge der vergangenen Jahre sowohl aus dem islamistischen als auch aus dem rechtsextremen Spektrum deutlich, dass extremistische Milieus weiterhin ein Bedrohungspotenzial darstellen. Die Anschläge von Dresden, Wien, Nizza oder Halle und Hanau sowie der Mord an Walter Lübcke sind dabei nur Ausschnitte, die öffentlich zutage treten und verhandelt werden. Auch im Kontext von Protesten gegen staatliche Coronamaßnahmen mit verschwörungsideologischen und demokratiefeindlichen Inhalten und Bestrebungen zeigte sich zuletzt eine Ausweitung extremistischer Radikalisierungen. Vor allem der vom Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem aktuellen Bericht neu aufgenommene Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“, der verfassungsfeindliche Coronaproteste und die Querdenken-Bewegung beschreiben soll, wirft erneut Fragen nach inhaltlichen Überschneidungen unterschiedlicher Extremismen auf.

Bisher wird den verschiedenen Phänomenen in der Regel durch spezifische Präventionsangebote begegnet. Diese Ausrichtung spiegelt sich sowohl in den Förderstrukturen als auch in den Inhalten bzw. der durch die Angebote angesprochenen Zielgruppen wider. In Ansätzen und Formaten der Primärprävention, die bereits phänomenübergreifend konzipiert sind und die Radikalisierung und Extremismus über die Grenzen der einzelnen Phänomene hinweg bearbeiten, wird diese Herangehensweise inzwischen zumindest teilweise infrage gestellt. Anders in der Tertiärprävention: Hier sind solche Entwicklungen in der Begegnung von Radikalisierung, Extremismus und Menschen- und Demokratiefeindlichkeit bisher nicht zu beobachten. Auf welche Unterschiede zwischen Primär- und Tertiärprävention weist das hin? Und wo stoßen phänomenübergreifende Ansätze in beiden Bereichen an Grenzen?

Angesichts des Aufkommens neuartiger Erscheinungsformen von Extremismus stellt sich schließlich auch die Frage, inwiefern Präventionsangebote mit klarem phänomenspezifischem Zuschnitt auch im Kontext zivilgesellschaftlicher Demokratieförderung und Radikalisierungsprävention durch phänomenübergreifende Ansätze ergänzt werden sollten. Diese Diskussion findet unter dem Schlagwort „phänomenübergreifende Arbeit“ statt, wobei wichtig ist zu beachten, ob jeweils von übergreifender Arbeit im Sinne von Extremismusphänomenen (also z. B. Links-, Rechts- und islamistischer Extremismus) die Rede ist oder ob menschen- und demokratiefeindliche Ideologien (z. B. Antisemitismus, antimuslimischer Rassismus, Queerfeindlichkeit, Sexismus) gemeint sind. Schließlich kommen letztere Phänomene nicht nur in extremistischen Kreisen vor, sondern sind gesamtgesellschaftlich verankert.

Im Folgenden wird zunächst die Aufstellung der Präventionslandschaft im Bereich des religiös begründeten Extremismus skizziert, um anschließend darstellen zu können, wie phänomenspezifische und phänomenübergreifende Ansätze in der Primär- und der Tertiärprävention bereits umgesetzt werden. Danach werden in einem Fazit Implikationen für die Praxis erörtert, um abschließend die Frage nach Chancen und Grenzen phänomenübergreifender Arbeit beantworten zu können.

Die Präventionslandschaft im Bereich religiös begründeter Extremismus

Die Präventionslandschaft im Bereich des religiös begründeten Extremismus ist im gesamten Bundesgebiet sehr divers aufgestellt. Auch bedingt durch die föderale Organisation der Bundesrepublik und die damit einhergehenden unterschiedlichen Förderstrukturen hat sich eine große Vielfalt von erfolgreichen Ansätzen in der Primär- und Tertiärprävention entwickelt. Gleiches gilt für die Zusammensetzung der Teams der im Arbeitsfeld tätigen Träger. Von Beginn an wurde bei der Zusammenstellung in einer Vielzahl der Organisationen Wert auf Multiprofessionalität gelegt. So finden sich in den Projekten der Islamismusprävention u. a. Sozialarbeiter*innen, Pädagog*innen, Psycholog*innen, Islamwissenschaftler*innen, islamische Theolog*innen, Politikwissenschaftler*innen und Soziolog*innen (vgl. Behr et al: 2021). Diversität ist vielfach auch in Bezug auf z. B. sprachliche, gender- und herkunftsbezogene Aspekte gegeben. Darüber hinaus blicken viele Mitarbeiter*innen und Träger auf eine eigene Geschichte in der Rechtsextremismusprävention zurück, die neben den Erfahrungen aus der Arbeit mit sogenannten Sekten auf die Entwicklung der Ansätze im Bereich Islamismus Einfluss genommen hat. Das bringt den Vorteil, dass den einzelnen Trägern bei der Gestaltung ihrer Angebote ein breites Spektrum sowohl phänomenspezifischer als auch phänomenübergreifender Expertise zur Verfügung steht.

Auf lokaler, regionaler und auch auf Bundesebene gibt es innerhalb der jeweiligen Phänomenbereiche (Prävention von Rechtsextremismus, Prävention von Islamismus etc.) regelmäßige Vernetzungstreffen, Austauschformate und befristete oder gar dauerhafte Kooperationen. Aufgrund der diversen Teamzusammensetzungen und Geschichten der Träger, aber auch aufgrund der Förderung von Vernetzungsaktivitäten seitens der Fördermittelgeber, wie im Programm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) beispielsweise, existieren mittlerweile auch erste größere Vernetzungen zwischen Trägern unterschiedlicher Phänomenbereiche. So können im Handlungsfeld Extremismusprävention von „Demokratie leben!“ derzeit auch Modellprojekte gefördert werden, die sich explizit phänomenübergreifend ausrichten.

Solche Möglichkeiten des Austauschs über Unterschiede und Ähnlichkeiten von Rechtsextremismusprävention auf der einen und Prävention von religiös begründetem Extremismus auf der anderen Seite sind ebenso sinnvoll wie der in diesem Kontext enthaltene phänomenübergreifende Austausch zu Querschnittsthemen wie Antisemitismus oder antimuslimischer Rassismus. Im Zuge dieser Vernetzungsaktivitäten haben Diskussionen über mögliche Hürden, Herausforderungen, Chancen und Grenzen phänomenübergreifender Ansätze begonnen. Dabei werden auch Ansätze aus der Intersektionalitätsforschung herangezogen, etwa um die eigene Arbeit anzureichern und der Komplexität sozialer Schieflagen gerecht werden zu können, da Diskriminierungen von Gruppen einzelne Menschen gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen betreffen können.[1] Nicht zuletzt in diesen Querschnittsthemen von Präventionsarbeit erweist sich ihr phänomenübergreifendes Potenzial.

Phänomenspezifische und phänomenübergreifende Ansätze in der Primärprävention

In Angeboten der primären Islamismusprävention finden sich bereits seit geraumer Zeit Beispiele für phänomenübergreifende Ansätze. Diese nehmen – etwa in Workshops für Jugendliche oder in Fortbildungen zu Radikalisierung und Extremismus für Fachkräfte – nicht nur den Islamismus in den Blick, sondern erweitern die Betrachtung auf andere Phänomene wie den Rechtsextremismus. Sie verweisen auf Gemeinsamkeiten der Phänomene, auf die Vergleichbarkeit von Radikalisierungsverläufen, die möglichen Faktoren und Motive von Radikalisierungsprozessen sowie auf ähnliche Formen der Ansprache vulnerabler Zielgruppen durch extremistische Akteur*innen. Sie behandeln darüber hinaus menschen- und demokratiefeindliche Positionen als Querschnittsthemen wie z. B. antimuslimischen Rassismus oder Antisemitismus. Dabei kann die ideologische Prägung des einzelnen Extremismusphänomens durchaus in den Hintergrund treten und stattdessen rücken allgemeine soziale Motive und Bedürfnisse von Jugendlichen in den Mittelpunkt – etwa die Suche nach Zugehörigkeit und Identität.

Allerdings wird diese Gewichtung in politischen und vor allem medialen Debatten nicht selten als Verharmlosung oder Relativierung von Radikalisierungen bezeichnet. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Gerade, weil Radikalisierungen oftmals Ausdruck (unbefriedigter) sozialer Bedürfnisse sind (vgl. Freiheit et al: 2022), versucht primäre bzw. universelle Prävention die Motive in den Blick zu nehmen, die Jugendlichen menschenund demokratiefeindliche Ideologien und/oder Gruppierungen attraktiv erscheinen lassen können. Häufig geht es dann darum, Jugendlichen demokratische Werte und Verfahren erfahrbar zu machen, damit sie Fähigkeiten erlangen, selbstständig und kompetent Verantwortung für das eigene Denken und Handeln zu übernehmen – auf einer demokratischen und menschenrechtlichen Basis. Das heißt auch, Jugendliche mit und in ihren Problemlagen ernst und als autonome Subjekte wahrzunehmen. Diese Maßnahmen finden in der universellen Prävention ohne konkreten Anlass in Bezug auf mögliche Radikalisierungen statt. Die BAG RelEx spricht in diesem Sinne von Präventionsarbeit als „(…) Entwicklung und Stärkung demokratischer und an den Menschenrechten orientierter Kompetenzen, der Ambiguitätstoleranz, des Umgangs mit Diversität sowie sozialer und emotionaler Fähigkeiten“. Sie fördert Resilienz gegenüber antidemokratischen Denk- und Handlungsweisen und ist eine Form von Empowerment zur Bewältigung jugendphasentypischer Entwicklungsaufgaben sowie für den Umgang mit individuellen und gesellschaftlichen Krisen (BAG RelEx 2019: 20f.).

Phänomenübergreifende Betrachtungen haben den Vorteil, dass speziell im Bereich der Islamismusprävention Stigmatisierungen von Zielgruppen minimiert oder gar ausgeschlossen werden. Herausfordernd sind jedoch die Anforderungen, die an die Mitarbeiter*innen in den Projekten gestellt werden. Neben der vorhandenen Expertise im Phänomenbereich Islamismus und dessen ideologischen Eigenheiten brauchen sie auch tiefergehendes Wissen in mindestens einem weiteren Phänomenbereich – meist dem Rechtsextremismus – oder in Querschnittsthemen wie Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus.

Allerdings verfolgt primäre Prävention auch weiterhin phänomenspezifische Themen und Ansätze, um umfassenderes Wissen und ein tieferes Verständnis des jeweiligen Phänomens zu erreichen und in entsprechende Maßnahmen einfließen zu lassen. Daher haben phänomenspezifische Ansätze nach wie vor ihre Berechtigung und lassen sich nicht durch phänomenübergreifende Formate ersetzen (vgl. Müller 2020: 61f.) Entscheidend sind letztlich der jeweilige Kontext, die Zielgruppe und das Ziel der Maßnahme.

Phänomenspezifische und phänomenübergreifende Ansätze in der Tertiärprävention

In der Tertiärprävention finden sich bisher keine explizit phänomenübergreifenden Angebote. Dafür mag es vor allem zwei Gründe geben: Zum einen sind hier unterschiedliche und spezifische Ansprachen erforderlich, um die jeweiligen Zielgruppen zu erreichen, die anders als in der universellen Prävention bereits deutliche Anzeichen einschlägiger Ideologisierung aufweisen oder sogar in extremistischen Gruppierungen aktiv sind. Sie wären durch eine phänomenübergreifende Ausrichtung der Beratungsangebote voraussichtlich nicht oder nur schwer zu erreichen. So wären Klient*innen aus dem islamistischen Spektrum kaum für Angebote zur Begegnung von Rechtsextremismus empfänglich und umgekehrt. Zum anderen – das zeigen beispielsweise Erfahrungen aus der Arbeit mit stark ideologisierten Personen im Bereich der Islamismusprävention – stellen Fachexpert*innen wie Islamwissenschaftler*innen oder auch islamische Theolog*innen spezifisches Wissen bereit und ermöglichen Zugänge zu Klient*innen, die andere Fachkräfte nicht hätten herstellen können.

Generell bedarf es in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit professionellen – und durchaus auch phänomenübergreifenden – Fachwissens über Beratung, um nachhaltig und erfolgreich arbeiten zu können. Wissensbestände Sozialer Arbeit und Psychologie sowie methodisches Wissen aus mindestens einem der vielzähligen Beratungsansätze, wie der klient*innenzentrierten Gesprächsführung, dem systemischen Ansatz oder der Gestalttherapie, sind eine unabdingbare Voraussetzung, um sowohl für die Klient*innen als auch die Berater*innen eine gelingende Arbeitsbeziehung gewährleisten zu können. Dieser Herausforderung entsprechen einige Beratungsstellen teilweise auch dahingehend, dass Beratungen im Tandem aus zwei Mitarbeiter*innen mit sich ergänzendem Fachwissen durchgeführt werden.

Die enge, vertrauensvolle und jahrelange Zusammenarbeit der Fachkräfte in multiprofessionellen Teams hat dafür gesorgt, dass Wissensbestände ausgetauscht wurden und auch in Formaten teaminterner Weiterbildungen ein erhöhter Wissenstransfer gefördert wurde. Zudem – so unsere Erfahrungen aus der Verbandsarbeit – haben viele Mitarbeiter* innen von Präventionsprojekten in hoher Eigenverantwortung und -motivation externe Weiterbildungsmöglichkeiten in Anspruch genommen (und diese nicht selten sogar aus eigenen Mitteln finanziert).

Fazit

Vor allem in der Primärprävention von religiös begründetem Extremismus besteht bereits eine Vielzahl phänomenübergreifender Angebote. Ihr Hauptvorteil in der Arbeit mit Jugendlichen, pädagogischen Fachkräften und Lehrer*innen besteht darin, dass sie tendenziell weniger stigmatisierend wirken als Angebote, die sich ausschließlich und spezifisch auf das Phänomen des Islamismus beziehen. Darüber hinaus verschafft phänomenübergreifendes Wissen den Teilnehmer*innen ein tieferes und von der jeweiligen Ideologie unabhängiges Verständnis von Radikalisierungsprozessen, den unterschiedlichen Einfluss- und Hinwendungsfaktoren sowie herausfordernden Lebenssituationen junger Menschen, auf die sie in der Folge leichter und den jeweiligen Umständen angepasst reagieren können. Dabei stellt die Bearbeitung mindestens zweier Extremismusphänomene für die Fachkräfte von Trägern der Islamismusprävention eine besondere Herausforderung dar, weil weitere Kompetenzen verlangt werden, die ein tieferes Verständnis beider behandelten Bereiche ermöglichen. Hier sind Kooperationen zwischen Trägern der Rechtsextremismus- und Islamismusprävention bzw. mit Trägern sinnvoll, die über besondere Kompetenzen etwa im Bereich des antimuslimischen Rassismus oder Antisemitismus verfügen. Solche Kooperationen sind ressourcenaufwendig und nicht ohne Weiteres, sprich ohne zusätzlichen Aufwand, zu leisten. Das gilt auch für trägerinterne Fortbildungen zu unterschiedlichen Extremismusphänomenen sowie menschen- und demokratiefeindlichen Ideologien.

Vor diesem Hintergrund sollten phänomenübergreifende Perspektiven und Kooperationen in besonderer Weise gefördert werden – ohne dass dabei der Blick für das Spezifische verloren ginge. Zudem gilt: Nicht alle müssen alles können. Vielmehr sollen sich Träger und Fachkräfte bei Bedarf an potenzielle Kooperationspartner*innen wenden können. Phänomenspezifisches Wissen bleibt vor allem in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit notwendig, da gelingende Ansprache und wirksame Angebote für sich radikalisierende Personen hier in besonderer Weise davon abhängen, dass sie möglichst niedrigschwellig Zugänge ermöglichen. So kann vertieftes phänomenspezifisches Wissen den Zugang zu stark ideologisierten Klient*innen erleichtern.

Um die Angebote phänomenübergreifender Radikalisierungsprävention ausweiten zu können, ist überdies eine weitere Anpassung der Förderstrukturen erforderlich, die sowohl phänomenspezifische als auch phänomenunabhängige Inhalte und Methoden umfasst. Dazu könnten Förderanreize zur Zusammenarbeit ausgebaut und gegebenenfalls verstetigt werden, um eine Fortführung von bisher erfolgreichen Kooperationen zwischen Trägern unterschiedlicher Phänomenbereiche zu ermöglichen. Phänomenübergreifende Fortbildungen für Fachkräfte können dabei helfen, die Kolleg*innen über ihr jeweils phänomenspezifisches Wissen hinaus weiterzubilden. Und: Um Expert*innen in den Organisationen zu halten sowie den steigenden Anforderungen in der alltäglichen Arbeit, ihrem Know-how und ihrer jahrelangen Erfahrung in multiprofessionellen Teams gerecht werden können, sind verlässliche und planbare Projektlaufzeiten und die Verbesserung teils prekärer Beschäftigungsverhältnisse erforderlich. Die Frage ob und wie phänomenübergreifende Arbeit gestaltet werden kann, ohne phänomenspezifische Zugänge einzuschränken oder zu verbauen, ist also auch eine Herausforderung für die Gestaltung und Ausstattung der entsprechenden Förderstrukturen.

 

Literatur

Behr, Harry Harun / Kiefer, Michael / Sitzer, Peter / Waleciak, Julian / Wagner, Kathrin / Freiheit, Manuela / Kulacatan, Meltem (2021): Good Practice in der praktischen Arbeit gegen religiös begründeten Extremismus, in: MAPEX-Forschungsverbund (Hrsg.): Radikalisierungsprävention in Deutschland: Mapping und Analyse von Präventions- und Distanzierungsprojekten im Umgang mit islamistischer Radikalisierung, Osnabrück/Bielefeld, S. 267–294.

Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus e. V. (2019): Standards für das zivilgesellschaftliche Engagement gegen religiös begründeten Extremismus, Berlin.

Freiheit, Manuela / Uhl, Andreas / Zick, Andreas (2022): Phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention: Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt MAPEX, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.

Müller, Jochen (2021): Recht behalten ist auch keine Lösung: Ambiguitätstoleranz in der Islamismusprävention, in: KN:IX-REPORT 2021, S. 58–67.

 

Anmerkungen

[*] Dieser Beitrag erschien zuerst im KN:IX Report 2022 , der vom Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX) herausgegeben wird.

[1] Intersektionalität beschreibt die Überschneidung unterschiedlicher Diskriminierungsformen, wie z. B. Diskriminierung aufgrund des sozialen Status, der Herkunft, des Geschlechts, der sexuellen Identität, des Alters oder einer Behinderung, die eine Person gleichzeitig betreffen, sich aber je nach Person sehr unterschiedlich auswirken können.

 

Die Autoren

Rüdiger José Hamm ist Diplom-Politologe und seit 2003 in der politischen Bildungsarbeit tätig. Zu seinen wissenschaftlichen Expertisen und praktischen Arbeitsbereichen zählen Extremismus, Critical Mixed Race Studies, Diversity & Anti-Bias Education, Antirassismus und Antisemitismus. Hamm ist Co-Gesch.ftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx).

Axel Schurbohm ist Fachreferent für religiös begründeten Extremismus bei der BAG RelEx. Zuvor arbeitete er in diversen Projekten der Radikalisierungsprävention sowie der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit bei der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V. Er studierte an der Fachhochschule Kiel Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Erziehung und Bildung sowie Migration & Diversität an der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel und ist zertifizierter Systemischer Berater (DGSF).

Seit Kurzem haben wir zwei neue Mitgliedsorganisationen! An dieser Stelle möchten wir das Interdisziplinären Zentrum für Radikalisierungs­präven­tion und Demokratieförderung e. V. (IZRD) und den Sozialdienst muslimischer Frauen e. V. (SmF) herzlich in der BAG RelEx willkommen heißen. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit im Rahmen der BAG RelEx!

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Zusammen mit einer Vielzahl an Organisationen unterstützen wir den offenen Brief an den Vorstandsvorsitzenden des Axel-Springer-Medienunternehmens, Mathias Döpfner. Mathias Döpfner sollte sich für seine rassis­tische Äußerung gegenüber musli­mi­schen Menschen entschul­digen!

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