4. August 2021 | BAG RelEx

Fachgespräch Städtischer Raum und Radikalisierung – ein Rückblick

Am 8. Juli 2021 haben wir ein Fachgespräch veranstaltet, in dem sich dem Verhältnis von Städtischem Raum und Radikalisierung gewidmet wurde. Des Weiteren ging es darum, wie Akteure aus der Präventionslandschaft die räumlichen Gegebenheiten vor Ort in ihre Projektarbeit und -konzeption einbeziehen. Wir konnten Expert*innen gewinnen, die den Teilnehmenden in drei Kurzvorträgen einen Einblick in die Thematik und ihre Arbeit und Praxiserfahrung gewährt haben. Im Anschluss wurde der Raum für weitere Fragen und Diskussion unter den Teilnehmenden und Expert*innen geöffnet.

Mit dem ersten Kurzvortrag wurde die wissenschaftliche Perspektive auf das Thema eingenommen und Grundgedanken, Herausforderungen und die Anfangsphase des Projekts Radikalisierende Räume vorgestellt. Für den zweiten Schwerpunkt des Fachgesprächs, die Perspektive der praktischen Arbeit, konnten wir Vertreter*innen von zwei unserer Mitgliedsorganisationen gewinnen, die jeweils von ihrer Praxiserfahrung und von Beispielfällen ihrer Projekte berichtet haben. Die Vorträge wurden gehalten von:

  • Prof. Dr. Sebastian Kurtenbach (Projekt Radikalisierende Räume, FH Münster)
    Städtischer Raum und Radikalisierung – Perspektive aus der Wissenschaft
    Sebastian Kurtenbach studierte Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften. Er promovierte am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität zu Köln zu Kontexteffekten   armutsgeprägter Stadtteile am Beispiel Köln-Chorweiler. Er leitete bereits mehrere Forschungsprojekte zu Radikalisierung sowie zu Fragen der soziologischen Stadtforschung. Im seit Oktober 2020 laufenden Verbundprojekt „Radikalisierende Räume“ mit dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) werden nun systematisch Kontexteffekte auf die Anfälligkeit für islamistische Radikalisierung untersucht und Strategien für die Praxis entwickelt. Er hat eine Professur an der FH Münster inne.
  • Linda Schumilas (Projekt Radikalisierende Räume, FH Münster)
    Städtischer Raum und Radikalisierung – Perspektive aus der Wissenschaft
    Linda Schumilas studierte Soziale Arbeit an der FH Münster und arbeitet dort seit 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Aktuell ist sie im Projekt Radikalisierende Räume tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Radikalisierungsprävention und der Prävention sexualisierter Gewalt. In der Praxis arbeitet sie zudem als Sozialarbeiterin in einer Jugendhilfeeinrichtung für sexualisiert übergriffige Jungen. An der TU Chemnitz absolviert sie derzeit ihren Master.
  • Ahmed Al-Rashed (Verein zur Förderung akzeptierender Jugendarbeit  e. V., Bremen)
    Städtischer Raum und Radikalisierung – Perspektive aus der Praxis von VAJA e. V.
    Ahmed Al-Rashed studierte Religions- und Politikwissenschaften an der Uni Bremen. Seit ca. 2012 arbeitete er in unterschiedlichen Kooperationen an der Konzeptentwicklung und der Durchführung von Workshops mit transkulturellem Blick und den Schwerpunkten Identitäten, Vergemeinschaftung und Religion. Seit 2018 arbeitet er beim Verein zur Förderung akzeptierender Jugendarbeit e. V. (VAJA) in Bremen  in der Fach- und Beratungsstelle kitab und war bis Ende 2019 auch im ausgelaufenen Modellprojekt JAMIL tätig.
  • Jens Jakobs (Verein zur Förderung akzeptierender Jugendarbeit  e. V., Bremen)
    Städtischer Raum und Radikalisierung – Perspektive aus der Praxis von VAJA e. V.
    Jens Jakobs hat Kulturwissenschaft (M.A.) und Soziologie (M.A.) studiert und ist seit 2010 hauptamtlicher Streetworker in der aufsuchenden Jugendarbeit im Regionalteam Mitte-West bei VAJA e. V. in Bremen. Seit 2020 ist er zudem Mitarbeiter in der Fach- und Beratungsstelle kitab. Seien Arbeitsschwerpunkte sind die aufsuchende Jugendarbeit in benachteiligten Stadtteilen, transkulturelle Ansätze in der Jugendarbeit, lebensweltorientierte Methoden und Jungenarbeit.
  • Numan Özer (180 Grad Wende, Köln)
    Städtischer Raum und Radikalisierung – Perspektive aus der Praxis des Projektes 180 Grad Wende
    Numan Özer ist stellvertretender Vorsitzender des Jugendbildungs- und Sozialwerk Goethe e. V. und Netzwerkkoordinator von 180 Grad Wende Keepers. Seit 2013 ist er für die Organisation des Projektes 180 Grad Wende tätig und betreut unter anderem Präventionsmaßnahmen in mehreren Justizvollzugsanstalten, ein NRW-weites Präventionsnetzwerk, sowie lokale und regionale Einzelfälle.

 

Städtischer Raum und Radikalisierung – Perspektive aus der Wissenschaft

Sebastian Kurtenbach stellte in seinem Vortrag das Verbund-Projekt „Radikalisierende Räume“ der Universität Bielefeld und der Fachhochschule Münster vor. In der wissenschaftlichen Debatte rund um Untersuchungen zu Radikalisierung fehle oft der sozialräumliche Blick. Diese Lücke versucht das Projekt „Radikalisierende Räume“ mithilfe von Bevölkerungsabfragen, ethnografischen Untersuchungen vor Ort sowie Expert*innen-Interviews zu füllen und den Forschungsstand um die spezifische Perspektive des Raums als Radikalisierungsfaktor zu erweitern.

Anhand von einigen Grafiken zeigte Kurtenbach zunächst die Ausgangslage des Forschungsvorhabens mit einem steigenden salafistischen Personenpotenzial in den letzten 10 Jahren und einer gleichzeitig deutlich erkennbaren räumlichen Konzentration. Kurtenbach ging der Frage nach, inwieweit sich aus diesem Verhältnis gewisse Muster ableiten lassen. Um dem auf den Grund zu gehen, zeigte er Befunde und Strukturen der Radikalisierungsforschung auf, in der sich wiederum drei Erklärungsansätze in der Debatte zu Radikalisierung identifizieren lassen. Die vorgestellten Modelle, dazu gehören u. a. McCauleys Zwei-Pyramiden-Modell (2017) sowie das NYPD-Modell (2007) nach Silber und Bhatt, versuchen alle den Prozess der Radikalisierung nachzuvollziehen und ihn in unterschiedlicher Weise zu modellieren. Des Weiteren widmete sich Kurtenbach in seinem Vortrag den allgemeinen Ursachen von Radikalisierung und bezog dabei Studien von Praktiker*innen-Befragungen mit ein. Zu den biografischen Radikalisierungsursachen zählte er den Crime-Terror-Nexus, bei dem die kriminelle Vergangenheit als Radikalisierungsgrund in den Fokus gerückt wird, kritische Lebensereignisse und die allgemeine Sozialisation, in der Ideologien vermittelt und weitergetragen werden, auf. Kurtenbach merkte kritisch an, was nahezu allen Ansätzen fehle, sei die genaue analytische Fassung von Extremismus, wenn Radikalisierung als Prozess begriffen wird, sowie Kausalitätsannahmen und die Festlegung wodurch Radikalisierung bedingt werde.

Der Raum hat einen eigenständigen Effekt auf die Lebenschancen von Menschen, was beispielsweise Bildungschancen, Einkommen und Gesundheit betrifft und müsse als Einflussgröße in der Radikalisierungsforschung genauer als bisher betrachtet und einbezogen werden. Der Bildungsverlauf eines Kindes könnte, so zitierte Kurtenbach den Soziologen der Uni Bochum Klaus Peter Strohmeier, nur anhand seiner*ihrer Wohnadresse mit einer Genauigkeit von bis zu 70% prognostiziert werden. Kurtenbach ging in seinem Vortrag auch der Frage nach, wie der räumliche Blick bei der Prävention von Radikalisierung helfen kann. Durch die Einbeziehung des Raums als alltägliche Erfahrungswelt kann Wissen über mögliche Präventionsansätze gewonnen werden, welche der Anfälligkeit für Radikalisierung vorbeugen.

Linda Schumilas ergänzte den Vortrag um eine detaillierte Vorstellung des Projekts und ging näher auf den Untersuchungsschwerpunkt urbane Millieus/soziale Räume hinsichtlich neo-salafistischer Radikalisierungspotenziale ein. Ebenso legte sie den konkreten mehrstufigen Projektverlauf dar, der aus ethnografischen Beobachtungen, standardisierten Befragungen und Leitfadeninterwies und im letzten Schritt aus der Auswertung und zur Verschriftlichung kommunaler Handlungskonzepte besteht.

Die Mitarbeiter*innen des Projekts nehmen den Raum als Radikalisierungsfaktor in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung und wollen so den aktuellen Forschungsstand um die räumliche Perspektive erweitern und anhand daraus gewonnener Erkenntnisse Präventions-und Interventionsmöglichkeiten im Raum ausbauen. Des Weiteren stellte Schumilas die für das Projekt eingerichtete Website vor, die als Informationsinstrument für die Wissenschaft und die interessierte Allgemeinheit bestimmt ist, auf der aktuelle Ergebnisse präsentiert und weitere Daten zum Thema Radikalisierung und Raum zur Verfügung gestellt werden. Publikationen zu Raum und Linksextremismus bzw. Rechtsextremismus sowie ein Podcast sind in Planung und können bald auf der Website eingesehen werden.

Den vollständigen Vortrag von Sebastian Kurtenbach und Linda Schumilas finden Sie in unserer Mediathek.

Städtischer Raum und Radikalisierung – Perspektive aus der Praxis von VAJA e. V.

Jens Jakobs und Ahmed Al-Rashed stellten in ihrem Vortrag die Rolle des städtischen Raums in der Arbeit des Vereins zur Förderung akzeptierender Jugendarbeit (VAJA e. V.) und dessen Fach -und Beratungsstelle kitab vor und gewährten so Einblicke in die konkrete präventive Praxis.

Im Rahmen akzeptierender Jugendarbeit arbeiten die Mitarbeiter*innen der Regionalteams mit Jugend-Cliquen, die den städtischen Raum als ihren zentralen Ort der Freizeitgestaltung definieren. Aspekte wie Beziehung, Lebenswelt und Sozialraum spielen in der Arbeit mit den Jugendlichen eine große Rolle. In den betreffenden Stadtteilen werde stetig daran gearbeitet, ein kooperatives Netzwerk an Partner-Organisationen und Vereinen aufzubauen und zu erweitern, um den Jugendlichen aktiv die Teilnahme und Teilhabe am Gemeinwesen und ansässigen Projekten zu ermöglichen. Zu den Hauptaufgaben der Fach- und Beratungsstelle kitab gehören zudem, so Al-Rashed, die systemische Beratungsarbeit beispielsweise für junge Erwachsene im Selbstfindungsprozess, Angehörige in familiären Konflikten oder verunsicherte Fachkräfte. Bei den individuellen Beratungsfällen geht es oft um die Auseinandersetzung mit Identität, Glaube und Zugehörigkeit auf verschiedenen Ebenen. Dabei wird das Ziel vertreten, im Sozialraum eine Religionssensibilität aufzubauen. Die Fachstelle kitab sieht sich dabei klar als Instrument der Kinder- und Jugendhilfe.

Am Beispiel von Bremen zeigten sie wie die Arbeit der Regionalteams im städtischen Raum funktioniert, wie auf Bedarfe reagiert wird und wie unterschiedliche Situationen eingeordnet und bewertet werden. Wichtig dabei sei es, so Jakobs, Teams mit verschiedenen Zuständigkeiten zu bilden, die verschiedene Kompetenzen mitbringen und sich in den jeweiligen Stadtteilen gut auskennen, um allen Bedarfen gerecht zu werden.

Jakobs und Al-Rashed fassten abschließend zusammen, an welchen Vorüberlegungen sie sich als Praktiker*innen in Bezug auf Radikalisierung in spezifischen Stadtteilen orientieren. Dazu gehören biografische Sozialisationsbedingungen, Diskriminierungserfahrungen, sozio-ökonomische Rahmenbedingungen, Rassismuserfahrungen und religiöse Inhalte, die wiederum eine sehr kleine Rolle spielen. Daraus werden Fragen und Maßnahmen entwickelt, wie und wo Hilfe und Unterstützung benötigt wird und angebracht ist. Dabei betonten sie, wie sich einzelne Stadtteile, Städte und Regionen anhand ihrer Rahmenbedingungen und Erfahrungswerte unterscheiden. Der Städtische Raum sei sehr divers und dynamisch und die Verlagerung in den digitalen Raum stelle die Praktiker*innen vor Ort vor immer neuere Herausforderungen.

Den vollständigen Vortrag von Jens Jakobs und Ahmed Al-Rashed finden Sie ebenfalls in unserer Mediathek.

Städtischer Raum und Radikalisierung – Perspektive aus der Praxis des Projektes 180 Grad Wende

Numan Özer stellte in seinem Vortrag das Projekt 180 Grad Wende (Jugendbildungs- und Sozialwerk Goethe e. V.) und dessen Wirken in Köln in Bezug auf den städtischen Raum vor. Zunächst beleuchtete Özer den Stadtraum Köln und zwei der benachteiligten Stadtteile, sowie die seit Jahren wachsende salafistische Szene der Stadt. Özer stellt fest, dass bestimmte Stadteile aufgrund ihrer Begebenheiten, wie soziale Benachteiligung und drohende Armut, aus der Erfahrung der praktischen Arbeit des Projektes von Radikalisierungstendenzen betroffen sind.

Das Projekt arbeitet mit dem Konzept der Role Models, der positiven Vorbilder, und baute in den letzten Jahren ein starkes Netzwerk auf. Idee der Role Models ist, dass sie über Ansteckungseffekte in den Sozialraum wirken können. Aktuell besteht das Netzwerk aus ca. 16 verantwortlichen Coaches und ca. 100 Multiplikator*innen verteilt auf die verschiedenen Ortsteile. Diese arbeiten mit dem klaren Ziel, in die einzelnen Stadteile zu gehen und dort ortsteilbezogen zu arbeiten, um ein Frühwarnsystem aufzubauen. Radikalisierungsprozesse, so machte Özer deutlich, sind in erster Linie auf individuelle Erfahrungen und persönliche Entwicklungen und biografische Brüche zurückzuführen. Eine große Rolle als Auslöser für solche Prozesse, wird auch im Sozialraum gesehen. Özer ging in seinem Vortrag der Frage nach, wie der Sozialraum an sich einzelne Personen gefährden kann.

Am Beispiel der Stadt Köln zeigte Özer drei Faktoren auf, aufgrund derer Jugendliche im städtischen Raum besonders gefährdet sind, sich zu radikalisieren. Zum einen gibt es bereits eine gewisse Anzahl an radikalisierten Akteuren, die im städtischen Raum agieren und attraktiv auf die Jugendlichen wirken. Zum anderen stellt er eine Überlastung des Regelsystems fest, das aus verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen besteht. Jugendliche und junge Erwachsene sehen sich vermehrt einer reellen oder erwarteten Diskriminierung ausgesetzt und verweigern sich im weiteren Verlauf den Mechanismen dieses Regelsystems. Ein großer Andrang und daraus resultierende lange Wartezeiten und eine schwindende Qualität der Betreuung führen auch dazu, dass dieses Regelsystem dem Andrang nicht gerecht werden kann und Kolleg*innen überfordert sind. Eine weitere Ursache der Radikalisierung sieht Özer in der gefühlten und/oder tatsächlichen Ungleichheit in benachteiligten Stadtteilen.

Auf Grundlage der identifizierten Radikalisierungsursachen stellte Özer des weiteren Lösungsansätze vor, die sein Team entwickelt hat, um diesen Komponenten entgegenzuwirken. Neben den bereits erwähnten Coaches und Multiplikator*innen, die direkt vor Ort agieren und die Entwicklung der Szene fortlaufend beobachten, sollte das Regelsystem mit mehr Mitarbeiter*innen unterstützt, begleitet und evaluiert werden, um eine bessere Betreuung gewährleisten zu können. Zudem sollte der herrschenden Ungleichheit und Perspektivlosigkeit, denen die Jugendlichen gegenüberstehen mit gezieltem Empowerment und individueller Einzefallbetreuung entgegengearbeitet werden.

 

Die Veranstaltung fand im Rahmen von KN:IX statt.

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