Die Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus e. V. (BAG RelEx) sucht zum 01.01.2026 eine*n Referent*in für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit (m/w/d) als Elternzeitvertretung. Die Stelle ist zunächst bis 31.12.2026 befristet; eine Verlängerung wird angestrebt. Lesen Sie hier die vollständige Stellenausschreibung.
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Islamismus darf keine Antwort auf die Schicksalsfrage sein

von: Monzer Haider und Duleem Ameen Haji

Bashar al-Assad wird am 8. Dezember 2024 gestürzt – ein Tag, den Millionen Syrer*innen seit Jahren herbeigesehnt haben. Mit dem Fall des Regimes verbinden sich zunächst Hoffnungen auf ein Ende autoritärer Herrschaft und die Aussicht auf politische Erneuerung. Zugleich ruft die neue Machtelite – eine von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS, dt.: Komitee zur Befreiung Syriens) geführte Rebellenallianz mit ideologischen Wurzeln im jihadistischen Spektrum[1] – bei vielen Bevölkerungsgruppen im Land, insbesondere bei ethnischen und religiösen Minderheiten, erhebliche Sorgen hervor. Entwicklungen der letzten Monate bestätigen dabei viele Befürchtungen und verdeutlichen, wie brüchig die Perspektive einer demokratischen Zukunft in Syrien bleibt:

So kam es in der syrischen Provinz Suwaida im Juli 2025 zu massiven Gewaltausbrüchen mit zahlreichen Massakern an der drusischen Zivilbevölkerung, an denen neben lokalen Milizen nachweislich auch Regierungstruppen beteiligt waren.[2] Die gewaltvollen Massaker an der mehrheitlich drusischen Bevölkerung in Suwaida verdeutlichen dabei insbesondere die anhaltende Verwundbarkeit ethnischer und religiöser Minderheiten im Land. Parallel dazu rücken die für Oktober 2025 angesetzten Parlamentswahlen in den Mittelpunkt nationaler und internationaler Aufmerksamkeit[3]: Während die Übergangsregierung unter Ahmad al-Scharaa sie als Schritt zur Stabilisierung und Demokratisierung präsentiert, kritisieren insbesondere Angehörige syrischer Minderheiten den Prozess als „Farce“, die weniger demokratische Teilhabe ermöglicht, als vielmehr der Legitimierung bestehender Machtverhältnisse dienen soll. Nach über einem Jahrzehnt von Bürgerkrieg und jahrzehntelanger Diktatur bleibt damit ungewiss, in welche Richtung sich Syrien entwickeln wird. Zwischen der Hoffnung auf einen politischen Neuanfang und der Realität aus anhaltender Gewalt, antidemokratischen Einflüssen und defizitären Reformversuchen steht das Land an einem Scheideweg.

Der vorliegende Beitrag untersucht dabei die politischen Entwicklungen in Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes und dem Aufstieg von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) und richtet dabei den Blick auf die Situation ethnischer und religiöser Minderheiten im neuen Syrien. Dabei wird der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen sich aus der zunehmenden Gewalt an Minderheiten in Syrien auf die syrische Community – auch in der Diaspora und die salafistische Szene in Deutschland ergeben.

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Vermeintliche Transformation der HTS

Die HTS war bis 2016 unter dem Namen Jabhat al-Nusra (JN) bekannt, welche ursprünglich als syrischer Ableger der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) agierte. Ihr erklärtes Ziel war der Sturz des Assad-Regimes sowie die Gründung eines Staates islamistischer Prägung. Nach Machtkonflikten mit dem sogenannten Islamischen Staat erklärte JN 2013 seine Treue zu al-Qaida und fungierte anschließend bis 2016 als syrischer Ableger selbiger. Ein öffentliches Video mit Abu Mohammad al-Jolani (welcher sich seit der Machtübernahme 2025 wieder auf seinen bürgerlichen Namen Ahmad al-Scharaa bezieht) stellt zwar einen Bruch der organisatorischen Verbindung zu alQaida dar, eine vollständige ideologische Distanzierung gab es jedoch bis heute nicht; vielmehr dankte al-Jolani Osama bin Laden und Ayman al-Zawahiri für ihre Arbeit und Unterstützung. Er rechtfertigte die öffentliche Trennungserklärung einzig mit dem übergeordneten strategischen Interesse, die eigene Gruppe innen- wie außenpolitisch zu legitimieren. Dies wäre ohne eine formale Lossagung von Al-Qaida wohl nicht möglich gewesen.[4]

2017 entstand HTS offiziell. Der Namenswechsel sollte die Umwandlung von einer jihadistisch-ideologischen Prägung, hin zu einer stärker syrisch-nationalistischen Ausrichtung propagieren, die vor allem die Befreiung Syriens vom Assad-Regime betonte. In Idlib hatte HTS ihr politisches und militärisches Zentrum. In dieser Region setzte sich auch der Versuch einer salafistischen Beeinflussung der Gesellschaft fort: Moscheen wurden von salafistischen Akteuren dominiert, öffentliche Räume genutzt, um systematisch salafistische Inhalte zu propagieren, und niedrigschwellige Sozial- und Bildungsangebote – etwa kostenlose Bücher und Kleidung zur Körpervollverschleierung für Frauen – sollten einer weiteren Indoktrinierung dienen.

Der Sturz Assads und die Machtübernahme der HTS über große Teile Syriens bilden nun einen strategischen Wendepunkt: „Wir müssen von der Mentalität der Revolution zur Mentalität des Staates übergehen“ betont Ahmad al-Scharaa immer wieder.[5] Zur Überzeugung einer solchen Transformation zielt die HTS auf eine äußere Selbstdarstellung ab, welche ihre Loslösung von jihadistischem Extremismus beweisen soll. Auf diese Weise veränderte HTS gezielt sichtbare Symbole ihrer Herrschaft – von äußerlichen Veränderungen im Auftreten ihrer Mitglieder über demonstrative Gesten und Formen der Interaktion mit Frauen bis hin zu symbolpolitischen Maßnahmen wie der Ernennung einer Christin zur Ministerin oder dem allmählichen Austausch der Schahada-Flagge durch die Oppositionsflagge. Parallel dazu ziehen salafistische Missionierungsbewegungen organisiert von Stadt zu Stadt, um ihre Lehre in sunnitisch geprägten Gebieten zu verbreiten. Dabei greifen sie insbesondere die von der Mehrheit der Syrer*innen vertretenen asharitischen, maturidischen und sufistischen Traditionen an, während religiöse Minderheiten, wie etwa Drus*innen, Alawit*innen und Christ*innen zusätzlich gezielter Gewalt ausgesetzt sind. Aus dieser ideologischen Abwertung erwächst zugleich ein gesellschaftliches und politisches Klima, das Diskriminierung und Gewalt gegen Minderheiten begünstigt und rechtfertigt.

Alawit*innen – Generalverdacht und gezielte Gewalt 

Besonders betroffen von dieser Gewalt sind Alawit*innen, die im salafistischen Denken als ‚unislamisch‘ gelten und zudem unter Generalverdacht stehen, Anhänger*innen des Assad-Regimes zu sein. Ab März 2025 schlug dieser Generalverdacht in gezielte Gewalt gegen Alawit*innen um. Salafistische Akteure riefen aus Moscheen zu Gewalthandlungen gegen Gebiete, in denen mehrheitlich Alawit*innen leben, auf. Tausende Jihadisten folgten den Aufrufen und übten in der Folge gezielt Gewalt aus – von Morden über Vergewaltigungen und Erniedrigungen bis hin zu Plünderungen und der gezielten Zerstörung religiöser Stätten.  Hierbei kam es insbesondere zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Gerechtfertigt wurden diese Gräueltaten mit der Behauptung, dass Anhänger*innen Assads vermeintlich danach streben, einen alawitisch-geprägten Staat zu gründen. Die Gewalt richtete sich dabei auch bewusst gegen Drus*innen.[6]

Die drusische Gemeinschaft im Visier der HTS

Ziel systematischer Gewalt durch islamistische Akteure in Syrien ist seit langem auch die drusische Gemeinschaft (auch al-Muwaḥḥidūn, arabisch: ‚Bekenner der Einheit Gottes‘). Weil ihre religiösen Überzeugungen dem salafistischen Islambild widersprechen, werden Drus*innen ebenfalls als „unislamisch“ abgewertet – was sich in Massakern wie 2015 in Qalb Lawzeh (Idlib) durch Jabhat al-Nusra oder 2018 in der Provinz Suwaida durch eine dem sogenannten Islamischen Staat nahestehende Gruppe zeigte.

Im April 2025 kam es in Jaramana, einem überwiegend von Drus*innen bewohnten Damaszener Vorort, zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen HTS-Sicherheitskräften und drusischen Kräften, bei denen zahlreiche Zivilist*innen ums Leben kamen. Nach einer vorübergehenden Einigung brachen erneut Kämpfe aus: Drus*innen wurden wiederholt Ziel islamistischer Angriffe, zuletzt in der südlichen Provinz Suweida. Dort kam es zu Massakern, bei denen Hunderte Leichen im Nationalkrankenhaus lagen, weil es an Personal und logistischen Kapazitäten für Beerdigungen fehlte.[7] Darüber hinaus zielte die Gewalt vor allem auch darauf ab, Drus*innen zu entwürdigen. So wurden drusischen Männern unter anderem die Schnurrbärte als Symbol der Erniedrigung gestutzt, während Frauen sexualisierte Gewalt erlitten.[8] Verstärkt wurde diese Eskalation durch die Beteiligung weiterer islamistischer und nationalistischer Gruppierungen, die die Polarisierung der syrischen Gesellschaft weiter vertieften. Dies hat derzeit zur Folge, dass sich die Stadt seit Wochen in einem Ausnahmezustand befindet. Hilfslieferungen erreichen die Provinz nur eingeschränkt, da die HTS ihre Bevölkerung kollektiv zu bestrafen scheint. Besonders medizinische Behandlungen wie Krebstherapien leiden unter dem Versorgungsmangel. Drus*innen fordern deshalb humanitäre Korridore nach Jordanien und Rojava. Das Vertrauen in die HTS-Regierung in Damaskus ist durch die erfahrene Gewalt erschüttert, auch wenn diese einen nationalen Untersuchungsausschuss zu den Ereignissen angekündigt hat. Die Menschen in Suwaida hingegen verlangen eine internationale Untersuchung.[9]

HTS-Propaganda in der syrischen Diaspora

Die Gewalt und Anfeindungen gegenüber Minderheiten bleibt jedoch nicht allein auf Syrien beschränkt. Auch in Deutschland fühlen sich Angehörige syrischer Minderheiten zunehmend bedroht. Auf Demonstrationen und Plattformen wie TikTok taucht vermehrt das Bild der Schere auf. Das sogenannte Scherensymbol bezieht sich dabei in direkter Weise auf das jüngste Massaker in Syrien, bei denen drusische Männer und Geistliche durch islamistische Milizen gezwungen wurden, sich mit Scheren die Bärte abzuschneiden. Durch die Gestikulation einer Scherenbewegung, das Zeigen einer tatsächlichen Schere oder die Verwendung entsprechender Emojis wird diese Symbolik auf Demonstrationen in Deutschland und in den sozialen Medien vermehrt aufgegriffen und die Billigung der Gewalt an religiösen Minderheiten öffentlich signalisiert. Prominentere Verbreitung erfuhr das Zeichen etwa durch den Micro-Influencer Hisham al-Ali, der in Berlin zu Kundgebungen aufrief und das Scherensymbol provokativ in seinen Videos inszenierte.[10]

Drus*innen werden dabei bei Demonstrationen als „Verräter*innen“, Kurd*innen als „Atheist*innen“ und Alawit*innen als „Assad-Anhänger*innen“ diffamiert; Insgesamt entsteht innerhalb der Diaspora ein Klima gezielter Ausgrenzung und Feindseligkeit, selbst in Räumen, die Solidarität mit Betroffenen signalisieren wollen. Auch innerhalb der syrisch-sunnitischen Community werden solidarische Stimmen stigmatisiert. Der abwertende Begriff „Cute-Sunni“[11], geprägt von HTS-nahen Propagandist*innen, dient dazu, arabische Sunnit*innen zu diskreditieren, die nicht dem ideologischen Weltbild von HTS entsprechen. Sie werden als „Hochverräter*innen“ gebrandmarkt; ein gefährliches Narrativ, das gezielt spaltet. In sozialen Netzwerken verbreiten darüber hinaus zahlreiche HTS-nahe Accounts, betrieben von in Deutschland lebenden Personen, islamistische Hassnarrative gegenüber Minderheiten. Die Gewalt gegen Drus*innen hat neben physischen Angriffen damit auch eine stark symbolische Dimension. So werden gezielt propagandistische Inhalte eingesetzt, die ihre religiöse und kulturelle Identität herabwürdigen. Parallel dazu bedienen sich islamistische Akteure Verschwörungserzählungen, in denen die drusische Konfession verzerrt und abgewertet dargestellt wird. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der in Deutschland lebende syrische Salafist Mohammad Bin Shams al-Din, der Drus*innen auf seiner Webseite als „Taqīya-Gemeinschaft“ diffamiert, ihnen also unterstellt, ihre wahren Überzeugungen zu verbergen.[12] Zudem wirft er ihnen vor, die Propheten und ihre Gefährten zu beleidigen und nutzt auch den drusischen Glauben an Reinkarnation als Angriffspunkt. Solche Verschwörungserzählungen und abwertenden Zuschreibungen sind nicht nur rassistisch und diskriminierend, sondern dienen als ideologische Grundlage und potenzielle Rechtfertigung für Gewalt – sowohl in Syrien als auch in Deutschland.

Der Kampf gegen islamistische Narrative

Die Thematisierung und Auseinandersetzung mit der Diskriminierung syrischer Minderheiten innerhalb migrantischer und muslimischer Communities – insbesondere in Deutschland – ist von zentraler Bedeutung. Es zeigt sich hier nämlich eine besondere Herausforderung: Minderheiten wie Drus*innen, aber auch weitere Minderheiten wie z.B. Alawit*innen oder Ezid*innen bilden innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft bereits marginalisierte Gruppen, werden jedoch zugleich auch in Teilen von einigen migrantischen Communities und Diasporagemeinschaften als „eine Minderheit in der Minderheit“ erneut diskriminiert.14 Diese doppelte Verwundbarkeit macht sie besonders gefährdet für Einschüchterung, Gewalt und Ausgrenzung. In ideologischen Milieus, in denen islamistische Haltungen, antikurdische Ressentiments und türkisch-nationalistische Überlegenheitsvorstellungen     aufeinandertreffen,    entstehen    sowohl    Feindbilder    als    auch    neuartige antidemokratische Allianzen, die reale Bedrohungslagen für betroffene Communities in Deutschland darstellen und extremistische Radikalisierungsprozesse innerhalb von Deutschland als solche vorantreiben. In diesem Kontext können u.a. einige Demonstrationen und Kundgebungen in Düsseldorf im Juli 2025 angeführt werden, bei denen vermehrt Hass- und Gewaltparolen gegen Minderheiten skandiert wurden – insbesondere durch Anhänger*innen des HTS-Regimes gemeinsam mit Teilen der türkischen Rechten.[13] Derartige „solidarische“ Zusammenschlüsse bergen die erhebliche Gefahr, das HTS-Regime im Ausland indirekt zu stützen und ihm zur außenpolitischen Legitimation zu verhelfen. Gerade aus diesem Grund braucht es in Deutschland sogenannte „HTS-freie Räume“: geschützte Orte, an denen sich Menschen unabhängig von ideologischer Bevormundung, religiösem Dogmatismus und gewaltsamer Bedrohung begegnen können. Treffpunkte, Bildungsstätten und Community-Zentren, in denen keine Symbole, Parolen oder Personen geduldet werden, die mit HTS, islamistischer Ideologie oder Gewaltverherrlichung in Verbindung stehen, sind für betroffene Minderheiten lebenswichtig.

Darüber hinaus braucht es in Deutschland mehr Räume und Angebote, in denen Syrer*innen offen über die Gefahren und Folgen islamistischer Herrschaftsformen sprechen können. Wichtig sind Formate, die sich ausdrücklich mit der Dekonstruktion von HTS-Narrativen auseinandersetzen und dabei für unterschiedliche Zielgruppen zugänglich sind.

Dabei reicht es nicht, Präventionsangebote allein auf die Bekämpfung klassisch-islamistischer Argumentationsmuster zu beschränken. Inhalte in sozialen Medien zeigen, dass HTS-Anhänger*innen zunehmend auch gesellschaftspolitische Themen wie Sexismus, Identitätsfragen oder arabischen Nationalismus aufgreifen. Zugleich entstehen Brückennarrative, die ideologische Schnittmengen zu anderen extremistischen Strömungen schaffen – etwa über Männlichkeitsbilder, Antifeminismus oder Verschwörungsideologien. Zahlreiche Präventionsprojekte greifen bereits Brückennarrative auf, indem sie gemeinsame ideologische Muster verschiedener extremistischer Gruppen sichtbar machen und adressieren. Für die Weiterentwicklung der Präventionsarbeit erscheint es zentral, diese Ansätze weiter auszubauen und noch passgenauer in jenen Kontexten zu verankern, in denen eine besondere Relevanz für die Erreichung der jeweiligen Zielgruppen besteht. Es besteht somit die Notwendigkeit, entsprechende Räume in Deutschland weiter zu stärken. Währenddessen engagieren sich Aktivist*innen in Syrien weiterhin unter äußerst prekären Bedingungen für die Aufklärung der Gräueltaten in Suwaida, für Selbstbestimmung und die Gleichberechtigung unterschiedlicher Minderheiten und eröffnen durch den Aufbau solidarischer Bündnisse mitunter Diskursräume, in denen diese Themen ebenso wie Perspektiven für die zukünftige Entwicklung eines demokratischen Syriens verhandelt werden.[14]

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Die Autor*innen

Monzer Haider (er/ihm) studierte Politik- und Islamwissenschaften, Philosophie sowie Islamische Theologie. Derzeit promoviert er an der Universität Tübingen am Zentrum für Islamische Theologie zur Entwicklung salafistischer Szenen in Deutschland und ist dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Zuvor war er u.a. an der MasterClass: Präventionsfeld Islamismus der Bundeszentrale für politische Bildung beteiligt und veröffentlichte wissenschaftliche Beiträge im Themenfeld, u.a. im Journal EXIT-Deutschland – Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur.

Duleem Ameen Haji (er/ihm) studiert Medizin an der Universität Tübingen und ist freier Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Darüber hinaus engagiert er sich als Wertebotschafter bei German Dream und als Mitglied der Stelle für Jesidische Angelegenheiten für die Rechte und Sichtbarkeit der ezidischen Community. Gemeinsam mit Monzer Haider ist er Mitherausgeber der ÇÎYA-Zeitschrift, einer Plattform,
die geflüchteten, migrantischen und marginalisierten Stimmen Raum gibt und ihre Perspektiven sichtbar macht.

Anmerkungen und Literaturverzeichnis

[1] Die klassische Dreiteilung des Salafismus in „puristisch“, „politisch“ und „jihadistisch“ erweist sich im syrischen Kontext als unzureichend. Bei der HTS verschwimmen diese Kategorien, da Elemente aller drei Strömungen sichtbar sind. Eine Übertragung der in Deutschland etablierten Analysemodelle auf Syrien ist daher wenig sinnvoll. Dort vollzieht sich aktuell eine Institutionalisierung und Verstaatlichung salafistischer Narrative – eine kollektive Salafisierung durch staatlich gelenkte Ressourcen und Institutionen, die einen fundamentalen Unterschied zur Situation in Deutschland darstellt.

[2] Vgl. medico international (2025); Amnesty International (2025); Die Zeit (2025) (letzter Aufruf: 20.09.2025)

[3] Mitte Oktober sollen in Syrien die sogenannten Parlamentswahlen stattfinden. Dabei spielt Interimspräsident Ahmad alScharaa eine zentrale Rolle: Zum einen ernannte er bereits im Juni einen elfköpfigen Obersten Ausschuss, der die „Wahlen“ überwachen soll. Zum anderen wird er nach Abschluss des „Wahlprozesses“ dem neuen Parlament weitere 70 Abgeordnete hinzufügen (vgl. Deutsche Welle 2025, letzter Aufruf: 15.09.2025).

[4] Zu den Hintergründen des organisatorischen Bruchs der Jabhat al-Nusra mit al-Qaida vgl. BBC News Arabic (2025) (letzter Aufruf: 20.09.2025).

[5] Zur Analyse des von Ahmad al-Scharaa geäußerten Zitats vgl. Sharq al-Arabi (2025) (letzter Aufruf: 20.09.2025).

[6] Vgl. Hessenschau (2025) (letzter Aufruf: 20.09.2025)

[7] Vgl. BBC News Arabic (2025) (letzter Aufruf: 20.09.2025)

[8] Vgl. Daraj Media (2025) (letzter Aufruf: 20.09.2025)

[9] Vgl. taz (2025) (letzter Aufruf: 20.09.2025)

[10] Vgl. Democ (2025) (letzter Aufruf: 20.09.2025)

[11] Da sich das HTS-Regime als Vertreter aller Sunnit*innen präsentiert, werden sunnitische Kritiker*innen des Regimes häufig mit dem Begriff „Cute-Sunni“ herabgewürdigt. Die Bezeichnung unterstellt ihnen eine übertriebene Solidarität mit religiösen und ethnitischen Minderheiten, während ihnen gleichzeitig mangelnde Unterstützung gegenüber der sunnitischen Gemeinschaft vorgeworfen wird. Interessanterweise wird der Begriff „Cute-Sunni“ von Teilen sunnitischer Syrer*innen als Selbstbezeichnung übernommen, um ihre bewusste Solidarität mit unterdrückten und marginalisierten Gruppen zum Ausdruck zu bringen.

[12] In diesem Kontext veröffentlichte Shams al-Din auf seiner  Webseite (2022) einen ausführlichen, arabischsprachigen Beitrag zur drusischen Religion. Darüber hinaus verfügt er über eine erhebliche Reichweite in den sozialen Medien: So folgen ihm auf YouTube etwa 930.000 Personen und auf Instagram mehr als 307.000 Nutzerinnen und Nutzer (Stand: 27.08.2025).  14 Mehr zu einer differenzierten Betrachtung des Themenfeldes innermigrantischer Rassismus bietet der 2024 veröffentlichte Sammelband Doppelt unsichtbar Innermigrantischer Rassismus in Deutschland und die organisierte türkische Rechte.

[13] Am 20. Juli 2025 fanden vor dem Düsseldorfer Hauptbahnhof zwei Demonstrationen statt: Auf der einen Seite versammelten sich Angehörige syrischer Minderheiten, insbesondere Drus*innen und Kurd*innen, auf der anderen Seite Anhänger*innen des HTS-Regimes. Bei der Pro-HTS-Demonstration wurden Symbole gezeigt, die in Syrien für Gewalt, Demütigung und Mord an Minderheiten stehen. Auch Symbole der türkisch-rechtsextremen Grauen Wölfe waren dort zu sehen (vgl. Democ 2025; Kurdische Gemeinde Deutschland 2025, WDR Aktuell 2025, letzter Aufruf: 20.09.2025.)

[14] Beispiele hierfür sind u.a. Demonstrationen in Damaskus im August 2025, bei denen Hunderte Menschen gegen die von der Regierung eingesetzte Untersuchungskommission zu den jüngsten tödlichen Auseinandersetzungen in Suwaida protestierten und stattdessen eine unabhängige internationale Untersuchung forderten (Watson 2025, letzter Aufruf: 15.09.2025). Ebenso fanden im selben Monat Kundgebungen der drusischen Minderheit in Suwaida statt, bei denen das Recht auf Selbstbestimmung betont und politische Reformen verlangt wurden (AP News 2025, letzter Aufruf: 15.09.2025). Darüber hinaus startete die Women’s Joint Events Platform in Qamishlo im Nordosten Syriens eine mehrsprachige Solidaritätskampagne unter dem Slogan „Together to Support the Women of Suwayda in Confronting Genocide“, die auf die systematische Gewalt gegen Frauen in Suwaida aufmerksam mache und angesichts fehlenden staatlichen Schutzes sowie internationaler Untätigkeit zur Unterstützung der Betroffenen aufruft (ANHA 2015, letzter Aufruf: 15.09.2025).

 

 

 

Gesellschaftliche Spannungsfelder im Kontext von Flucht, Migration und Islamismusprävention

Einzelfälle islamistisch motivierter Gewalt durch Personen mit Migrationsgeschichte befeuern eine emotionalisierte Debatte über einen Zusammenhang zwischen Migration und Extremismus – doch greift diese zu kurz. Radikalisierung entsteht durch komplexe soziale, psychologische und institutionelle Dynamiken und ist nicht monokausal erklärbar. Um wirksame, kontextsensiblen Präventionsstrategien zu entwickeln braucht es einen multiperspektivischen Ansatz sowie enge Zusammenarbeit und Wissenstransfer von Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Sicherheitsbehörden. Zentral sind: ein interdisziplinärer Austausch zur Stärkung gesellschaftlicher Resilienz, die differenzierte Einordnung extremistischer Phänomene, um vorschnelle Zuschreibungen und das Ausblenden anderer Extremismusformen zu vermeiden, sowie die kontextuelle, weder unter- noch überbewertende Betrachtung von Flucht- und Migrationsbiografien.

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Handlungsempfehlungen

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Radikalisierung lässt sich nicht monokausal mit Flucht oder Migration begründen – so verlockend diese Erklärung für politische Akteur*innen auch sein mag. Vielmehr bedarf es einer multiperspektivischen Betrachtung der individuellen, sozialen und institutionellen Bedingungen, unter denen Radikalisierung stattfinden kann. Es braucht differenzierte Ansätze, die Schutzfaktoren stärken, Brücken zwischen Gruppen bauen und Polarisierung aktiv entgegenwirken. Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, müssen Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Sicherheitsbehörden gemeinsam an der Entwicklung transparenter, kontextsensibler und diskriminierungskritischer Präventionsstrategien arbeiten.

Daraus ergeben sich potenzielle Schwerpunkte, die stärker in den Fokus rücken müssen:

  1. Relevante wissenschaftliche Erkenntnisse aus der nationalen und internationalen Forschungslandschaft müssen in interdisziplinären Formaten gemeinsam reflektiert und eingeordnet werden – nicht zuletzt, um bestehende Brücken zwischen den relevanten Akteur*innen im Themenfeld Islamismus und Migration auszubauen oder aufzubauen. Es ist besonders relevant, hier die Expertise aus sowohl der Prävention von (islamistischem) Extremismus einzubinden als auch diejenige, die sich mit der Einordnung und den Auswirkungen von Migrationspolitik beschäftigt. Ein solcher interdisziplinärer und akteursübergreifender Schulterschluss wird entscheidend dazu beitragen, gesellschaftlichen Zusammenhalt effektiver zu fördern und Polarisierung entgegenzuwirken.
  2. Radikalisierung und Extremismus im Kontext von Migrations- und Fluchterfahrungen sollten als mögliche Aspekte ernst genommen werden – ohne dabei pauschale Täterzuschreibungen zu fördern oder betroffene Personen ausschließlich in einer Opferrolle zu verorten. Vielmehr gilt es, Migrations- und Fluchtbiografien als potenzielle Einflussfaktoren im Zusammenspiel mit weiteren sozialen, politischen und psychologischen Bedingungen zu betrachten und dabei weder überzubewerten noch aus rein humanistischer Perspektive auszublenden.
  3. Im Kontext extremistischer Phänomene sollte die Zuschreibung spezifischer Ideologien stets mit Bedacht erfolgen – insbesondere, wenn Migration und Religion miteinander verknüpft werden. Dies gilt vor allem im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus, wo islamistische Motive häufig vorschnell unterstellt werden. Eine solche pauschale Einordnung kann nicht nur zu sachlich unzutreffenden Bewertungen führen, sondern auch das gesellschaftliche Bild über die tatsächliche Verbreitung islamistischer Ideologien verzerren. Gleichzeitig drohen andere Formen von Extremismus aus dem Blick zu geraten, wenn sie nicht klar als solche benannt und eingeordnet werden.

 

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Ansprechpersonen für Rückfragen

Inhaltliche Rückfragen: Miriam Katharina Heß
Presseanfragen: Charlotte Leikert

 

Die Autor*innen

Miriam Katharina Heß ist seit 2024 Referentin für internationale Zusammenarbeit und Terrorismusanalyse bei der BAG RelEx. Sie studierte National and International Administration and Policy an der Universität Potsdam sowie Politikwissenschaften an der Universität Hamburg. Aktuell untersucht sie im Rahmen ihrer Promotion die Sicherheitsrhetorik von Terrorismus im Kontext von Versicherheitlichung in Deutschland an der Universität Leipzig.

Jamuna Oehlmann ist Geschäftsführerin der BAG RelEx und leitet seit 2025 KN:IX connect | Verbund Islamismusprävention und Demokratieförderung. Zuvor hatte Sie die Leitung des Kompetenznetzwerks „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX, 2020-2024) inne. Sie verfügt über einen akademischen Hintergrund in Asienwissenschaften sowie Internationale Beziehungen und Diplomatie, den sie in Berlin, Bangkok und London erworben hat. In ihren Studien hat sie sich insbesondere mit Fragen der internationalen Sicherheit und des Terrorismus auseinandergesetzt.

 

Über policy:brief

Das policy:brief der BAG RelEx fasst Positionen und Erkenntnisse aus unserer Arbeit prägnant zusammen und nimmt dabei besonders Bezug auf aktuelle gesellschaftspolitische Themen und Herausforderungen. Das policy:brief geht auf der einen Seite einen Schritt zurück und erklärt Zusammenhänge und auf der anderen Seite einen Schritt weiter, indem es zielgruppenorientierte und -gerechte Handlungsempfehlungen enthält. Unsere Arbeit und die unserer rund 40 Mitgliedsorganisationen wird so zielgruppengerecht kommuniziert und der Austausch mit externen Stakeholdern und Akteuren aus Wissenschaft, Politk, Verwaltung und Wirtschaft unterfüttert. Hier kommen Sie zur Übersicht der Ausgaben.

Wie nutzen extremistische Akteur*innen digitale Räume? Können Online- und Offlinesphäre bei Radikalisierungsprozessen überhaupt getrennt voneinander betrachtet werden? Und wie kann erfolgreiches demokratisches Engagement in sozialen Medien aussehen? Darüber sprechen wir mit Julian Hohner und Mehmet Koç.
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Alter Wein in neuen Schläuchen

von Patrick Möller, 15. Juli 2025

Die islamistische Bewegung der Hizb ut-Tahrir (HT) wächst in Deutschland – obwohl sie seit 2003 mit einem Betätigungsverbot belegt ist. Dazu beigetragen haben auch Realität Islam und Generation Islam, die als ideologisch-nahestehende bzw. informelle Formate der HT eingestuft werden. Die Bekanntgabe ihrer Auflösung im Mai und Juni 2025 erscheint wie eine positive Entwicklung im Kampf gegen die extremistische Bewegung. Doch paradoxerweise könnte dies der Hizb ut-Tahrir sogar von Nutzen sein.

Die aktuellen Zahlen der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern für das vergangene Jahr 2024 zeigen, dass die Hizb ut-Tahrir in Deutschland weiter Zulauf hat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz gibt die Zahl der Mitglieder/Anhänger*innen der HT nun mit bundesweit 850 an. [1] Damit haben sich die Zahl in fünf Jahren (Stand 2019: 430) nahezu verdoppelt und gemessen auf zehn Jahre (2014: 300) fast verdreifacht.

Die 2010er-Jahre – Das Fundament für den neuen Erfolg

Zu diesem Erfolg hat der Aufstieg der großen Sozialen Medien wesentlich beigetragen. Zwar konnten Anhänger*innen der HT schon vorher in Internetforen und frühen Sozialen Medien wie SchülerVZ für die HT werben und Rekrutierungsversuche unternehmen, [2] doch bot ab den 2010er-Jahren vor allem zunächst Facebook eine nie zuvor gekannte Reichweite, um mit Menschen über die digitale Welt in Kontakt zu treten. Hier etablierten sich einige HT-nahe Formate, die starke Reichweiten mit teils zehntausenden Follower*innen erzielten, [3] denen es aber an einer klaren inhaltlichen Konzeptionierung, Fachexpertise und Professionalität bei der Erstellung von Content mangelte.

Dies änderte sich mit der Gründung von Generation Islam (GI) im Jahr 2013 [4] und Realität Islam (RI) im Jahr 2015. Beide Formate speisten hochprofessionell erstellte Videos auf diversen Internet-Plattformen wie Facebook, YouTube, X (ehemals Twitter) und später auch Instagram und TikTok ein. Öffentliche Gesichter waren primär Ahmad Tamim (GI) und Raimund Suhaib Hoffmann (RI), sowie sekundär Ali Kil bei RI und Umar Qadir und Bilal Oromo bei GI; letzterer folgte auf Qadir, der Anfang der 2020er-Jahre von der Bildfläche verschwand. Im Gegensatz zu GI trat RI von Beginn an auch abseits des digitalen Raumes in Erscheinung, zu Beginn mit einer offensiven Werbekampagne und großen Saalveranstaltungen, später auch mit Veranstaltungen in eigenen Räumlichkeiten.

GI und RI produzierten in den zwölf bzw. zehn Jahren seit ihrer Gründung hunderte von professionell erstellten Videos, darunter im Fall von GI auch mit zahlreichen Animationen. Gemeinhin waren die Videos meistens im Stil eines frontalen Vortrags für Zuschauer*innen konzipiert. Die Themen variierten stark; das zentrale Narrativ war meist der „Assimilierungszwang“, den Politik und Medien gegenüber Muslim*innen ausüben würden, um einen entstellten Islam in Deutschland zu etablieren. Zwar nutzten die HT-Formate zur Vermittlung dieser Weltsicht gezielt den Zuschauer manipulierende Techniken, insbesondere Entkontexualisierung und ideologisches Framing, doch bediente man sich für die Grundlage keiner Fake-News, sondern realer Ereignisse, die mehr oder weniger tatsächlich Angriffe gegen muslimisches Leben in Deutschland darstellten. Dabei thematisierten die HT-Formate fast nie islam- und muslimfeindliche Aussagen der extremen Rechten, sondern von Politikern und Medien der demokratischen Mitte. Ihren mit Abstand größten Erfolg verzeichneten sie 2018 mit einer Petition im Zuge der bundesweiten Debatte nach einem Kopftuchverbot für Schülerinnen. [5] Ihr Erfolg spiegelte sich auch in den stark steigenden Zahlen von HT-Mitgliedern/Anhängern wider, die die Verfassungsschutzämter registrierten (2017: 350, 2020: 600).

Die 2020er-Jahre – die Jungen rücken nach und die Alten passen sich an

2020 trat in Hamburg mit Muslim Interaktiv (MI) ein neues HT-nahes Format in Erscheinung, dass sich grundsätzlich in seinen Inhalten als auch in seiner Selbstdarstellung von GI und RI deutlich unterschied. Statt eines wöchentlichen Vortragsvideos ist der Video-Content von MI sehr unregelmäßig, dafür mit großem Aufwand publiziert und geht häufig mit aufmerksamkeitswirksamen Aktionen im öffentlichen Raum einher. Dabei handelt es sich meist um Kundgebungen; die Teilnehmer*innenzahl liegt mittlerweile regelmäßig im vierstelligen Bereich. Die Aktionen zeugen von einem hohen Maß an Professionalität, Organisation und vor allem Disziplin. Äußerlich demonstrieren die MI-Aktivisten ein Image starker Maskulinität und treten in jugendlichen T-Shirts und Hoodies auf. Verglichen damit sehen die Videopredigten von GI und RI im konservativ-ordentlichen Hemd tatsächlich „alt“ aus.

Am 19. Mai 2025 nannte sich Realität Islam in den personalisierten Account Suhaib Hoffmann um, wobei sich die Transformation über Monate sukzessiv subtil abgezeichnet hatte. Ali Kil war seit Ende 2024 nicht mehr aufgetreten, später wurden Inserate von Hoffmann am Ende der Videos eingeblendet. Anfang Mai verschwand auch das Logo von RI zugunsten des Schriftszugs Suhaib Hoffmann, ehe am 19. Mai der Kanal endgültig in Suhaib Hoffmann umbenannt wurde. (Dokumentationsstelle Politischer Islam, 2025, S. 4 f.) Zudem wurden alle Videos gelöscht, die das Logo von RI enthielten. Bei vielen Followern löste dies starke Verwirrung aus, Hoffmann rechtfertigte dies später auf Instagram und YouTube damit, dass er etwas Neues wagen wolle.

Der plötzliche Abgang von Internetpredigern aus dem ideologischen Umfeld der deutschen HT ist nicht neu – konkrete Beispiele sind Ibn Yakub und Umar Qadir [6] – und zumindest im ersten Fall ist dies auf einen Ausstieg aus der HT zurückzuführen. [7] Frühe Spekulationen über ein mögliches Zerwürfnis zwischen Hoffmann und Kil waren daher ein erstes naheliegendes Erklärungsmuster, dem Hoffmann jedoch schnell entgegentrat, indem er seine Freundschaft mit ihm betonte und auf Kils weitere Internetpräsenz verwies, die keinerlei Bruch mit den ideologischen und narrativen Ansichten der HT aufweist.

Am 1. Juni 2025 erklärten die GI-Prediger Ahmad Tamim und Bilal Oromo in einem gemeinsamen Video das Ende von Generation Islam, wobei sie Spekulationen über ein Zerwürfnis zurückwiesen. Sie verkündeten sich künftig die Arbeit unter den YouTube-Kanälen Ahmad Tamim und Instagram- und TikTok-Accounts Bilal Oromo zu teilen und wandelten die Accounts von GI auf den entsprechenden Plattformen um. Begründet wurde die Entscheidung damit, sich den Entwicklungen in den Sozialen Medien anpassen zu wollen. [8] Auch hier wurde sämtlicher alter Content entfernt.

Motive für die Transformation

Über die Transformationsgründe lässt sich mangels einer internen Einsicht in den Entscheidungsprozess nur spekulieren. Ein naheliegendes Erklärungsmuster ist der generelle Trend in den Sozialen Medien zur Auflösung altbekannter Gruppen-Marken zugunsten personalisierter Accounts. Dadurch kann bei Interaktion die Beziehung zum Creator auch als nahbarer und persönlicher wahrgenommen werden. Ein weiterer möglicher Aspekt ist, dass beide Formate in der Öffentlichkeit in dem Sinne verbrannt sind, dass sie seit Jahren in den Verfassungsschutzberichten von Bund und Ländern erwähnt werden. Ihre islamistisch-extremistische Ausrichtung ist demnach allgemein bekannt und über das Internet können schnell Informationen eingeholt werden. Die Namen der Akteure sind dagegen deutlich weniger bekannt und neue Interessenten könnten daher weniger Berührungsängste haben.

Aus Sicht des Autors ist ein möglicher zentraler Aspekt, dass mit einer Umwandlung der Gruppen-Formate hin zu personalisierten Accounts ein immer wieder in der Politik gefordertes Verbot von GI und RI durchkreuzt wird. Nach § 2 VereinsG bedarf es für eine Einstufung als Verein keiner offiziellen Vereinsstruktur; das Bundesministerium des Innern teilte auf Anfrage des Autors mit, dass nach der ständigen Rechtsprechung die entsprechenden Paragraphen zudem möglichst weit auszulegen seien, um „möglichst jede Form der Vereinigung zu erfassen“. [9]
Durch die offizielle Auflösung von GI und RI und die Personalisierung der Accounts stehen die Inhalte nun als Privatmeinungen im öffentlichen Raum. Möglicherweise kann die Personalisierung auch für die HT-Anhängerschaft vorteilhaft sein. In der Vergangenheit wurden etwa nichtdeutschen Staatsangehörigen, denen die Sicherheitsbehörden eine ideologische Nähe zu GI und RI und damit zur Hizb ut-Tahrir attestierten, mit Verweis auf eben diese Nähe die Einbürgerung verweigert.

Eine erste Bilanz

Unabhängig von der Frage nach den Motiven für die Transformation lässt sich gut zwei Monate später attestieren, dass das Ende von GI und RI keine realen Auswirkungen auf die Content-Produktion und Aktivitäten der Verantwortlichen gehabt hat. Das jüngste Beispiel war der Aufruf zur „Schutzkampagne für Gaza“ durch Ahmad Tamim, die am 5. Juli 2025 mit einer großen Kundgebung in Berlin stattfand. Vorab wurde im Netz kräftig mobilisiert; viele Personen reisten aus anderen Bundesländern an. Mehr als 1.500 Personen nahmen an der straff organisierten und ohne Zwischenfälle durchgeführten Veranstaltung teil. Neben Ahmad Tamim als Hauptredner waren auch Bilal Oromo und Ali Kil im Publikum anwesend, Hoffmann hatte im Netz ebenfalls zur Teilnahme aufgerufen. [10]

Das offizielle Ende von Generation Islam und Realität Islam und die vollzogene Transformation stellt eine Wegmarke in der Geschichte der deutschen Hizb ut-Tahrir und ihrem Umfeld dar, eine tatsächliche Zäsur zeigt sich aber weder personell noch ideologisch oder inhaltlich. Insofern präsentieren die Verantwortlichen lediglich ihren alten Wein in neuen Schläuchen.

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Anmerkungen

[1] Bundesamt für Verfassungsschutz (2025, S. 204).

[2] Der Autor dieses Textes wurde im Jahr 2008 über das ehemalige Sozial-Media-Netzwerk SchülerVZ auf die Hizb ut-Tahrir erstmals aufmerksam. Eingeleitet wurde dies durch einen Jugendlichen, der sich in der Gruppe Christlich-Islamischer Dialog im SchülerVZ einbrachte. Im direkten Chat-Kontakt mit dem Autor warb der Jugendliche für die Notwendigkeit des Kalifats und verwies auf die HT-Internetseite Kalifat.com.

[3] Hierzu zählten etwa Formate wie Islamisches Erwachen, La hawla wa la quwwata illa billah und Verständnisse des Islam (Möller, 2022, S. 102).

[4] Anfangs noch – nach Impressumsausgaben der Internetseite – von Adrian Hajdaraj aus Hamburg geführt, ging die Verantwortung später an den in Berlin ansässigen Ahmad Tamim über.

[5] Angestoßen hatte dies Serap Güler (CDU), die damalige NRW-Staatssekretärin für Integration. Bereits im Jahr 2017 hatte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages ein solches Verbot als wohl verfassungswidrig eingeschätzt (Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags, 2017, S. 17).

[6] Ibn Yakub war auf YouTube einige Jahre mit einem eigenen Kanal präsent; bis 2015 wurden seine Videos zum Teil bei Generation Islam eingestellt bzw. er trat für GI auf. 2015 verschwand all der mit ihm produzierte Content von den GI-Accounts. Umar Qadir wirkte spätestens ab 2016 für GI, verschwand aber seinerseits Anfang der 2020er-Jahre und wurde durch Bilal Oromo ersetzt.

[7] Dies wurde dem Autor durch zwei zeitlich und örtlich voneinander unabhängige Quellen berichtet.

[8] Eine detaillierte Analyse des Transformationsvorgangs von GI und RI findet sich in der Publikation DPI Focus: Immer noch Jung. Hip. Islamistisch? der österreichischen Dokumentationsstelle Politischer Islam.

[9] Antwort des Bundesinnenministerium des Innern an den Autor vom 8. Juli 2025.

[10] Beiträge auf Instagram vom 5. und 6. Juli 2025.

 

Quellen- und Literaturverzeichnis

Bundesamt für Verfassungsschutz (2025). Verfassungsschutzbericht 2024. Bundesministerium des Innern.

Dokumentationsstelle Politischer Islam (2025). DPI Focus: Immer noch Jung. Hip. Islamistisch? Dokumentationsstelle Politischer Islam.

Möller, Patrick (2022). Hizb ut-Tahrir – Comeback einer verbotenen Organisation. In Rauf Ceylan & Michael Kiefer (Hrsg.), Der islamische Fundamentalismus im 21. Jahrhundert (S. 85–117) Wiesbaden: Springer VS.

Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags (2017). Schule und Religionsfreiheit. Wäre ein Kopftuchverbot für Schülerinnen rechtlich zulässig? WD 3 – 3000 – 277/16.

 

Der Autor

Patrick Möller studierte Islamwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg und Arabisch an der Ain-Shams-Universität in Kairo sowie der United Arab Emirates University in Al-Ain, Vereinigte Arabische Emirate. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Thema Islamismus, insbesondere dem Salafismus und der Hizb ut-Tahrir-Bewegung. Von 2015 bis Ende 2020 arbeitete er in der Radikalisierungsprävention für Violence Prevention Network gGmbH in Frankfurt und Berlin. Seit 2021 arbeitet er auf freiberuflicher Basis. 2022 erschien sein Beitrag „Hizb ut-Tahrir – Comeback einer verbotenen Organisation“ im Sammelband Rauf Ceylan & Michael Kiefer (Hrsg.), Der islamische Fundamentalismus im 21. Jahrhundert im Springer Verlag.

Heute jährt sich der Genozid von Srebrenica zum 30. Mal – ein Verbrechen, das bis heute nachwirkt. Als BAG RelEx nehmen wir den heutigen Internationalen Tag des Gedenkens an den Völkermord in Srebrenica (Beschluss der UN-Generalversammlung) zum Anlass, an die über 8.300 Bosniak*innen zu erinnern, die im Juli 1995 in und um die als UN-Schutzzone deklarierte Stadt Srebrenica systematisch ermordet wurden. Der Genozid, verübt durch serbische Einheiten unter dem Kommando von Ratko Mladić, gilt als das schwerwiegendste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Zahlreiche Opfer des Genozids bleiben bis heute verschwunden, während Überlebende und Hinterbliebene auch drei Jahrzehnte später noch für eine umfassende Aufarbeitung und die Anerkennung ihres erlittenen Leids kämpfen.

Der Völkermord von Srebrenica war Teil einer umfassenden, ultranationalistisch motivierten Gewaltkampagne, die sich im Kontext des Bosnienkriegs gegen die bosniakische, muslimische Bevölkerung der Region richtete. Srebrenica steht in diesem Zusammenhang bis heute sinnbildlich für das Versagen der internationalen Gemeinschaft und verdeutlicht, welche verheerenden Dynamiken nationalistische Ideologien entfalten können, wenn sie in politisches und militärisches Handeln übergehen.

Als BAG RelEx ist es uns dabei ein zentrales Anliegen, insbesondere auf die fortwährende Instrumentalisierung des Genozids von Srebrenica hinzuweisen: Rechtsterroristische Attentäter wie Anders Breivik oder der Täter von Christchurch stilisierten den Völkermord an den Bosniak*innen in der Vergangenheit zu zentralen Bezugspunkten ihrer Gewaltideologien gegen Geflüchtete, Migrant*innen und Muslim*innen. In Netzwerken der Neuen Rechten kursieren zudem offene Forderungen nach einem „Srebrenica 2.0“. Gleichzeitig wird der Genozid auch von islamistischen Gruppierungen immer wieder propagandistisch genutzt – etwa zur Emotionalisierung, Mobilisierung und Rekrutierung potentieller Anhänger*innen.

Das Gedenken an Srebrenica bedeutet deshalb weit mehr als eine historische Rückschau. Es verlangt eine kritische Auseinandersetzung mit der Vereinnahmung der Geschichte und ein aktives Eintreten gegen deren Relativierung und Verzerrung.

Wir möchten diesem Zusammenhang auf die Arbeit des Memorial Center Srebrenica hinweisen, welches durch Forschung, Dokumentation und Bildungsarbeit einen unverzichtbaren Beitrag zur Aufarbeitung und transnationalen Erinnerungskultur leistet.

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