7. August 2023 | BAG RelEx

Fachgespräch Christlicher Fundamentalismus – ein Rückblick

Im Rahmen unseres Fachgesprächs am 15. Juni 2023 haben wir uns dem Thema „Christlicher Fundamentalismus“ gewidmet. Während vor allem in den Medien fast ausschließlich über Islamismus gesprochen wird, finden andere Formen von religiösen Fundamentalismus, wie etwa in seiner christlichen Ausprägung, wenig Beachtung. Um hier etwas Licht ins Dunkel zu bringen, war es Ziel unseres Fachgesprächs, uns mit den Grundsätzen des christlichen Fundamentalismus auseinanderzusetzen. In einem ersten Impulsvortrag führte Dr. Martin Fritz in das Thema ein und beleuchtete die Charakteristika aus einer theoretischen Perspektive. Anschließend gab uns Ayşenur Aydın einen Einblick in die praktische Arbeit im Themenfeld.

  • Dr. Martin Fritz arbeitet aktuell bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Dort ist er wissenschaftlicher Referent für Grundsatzfragen, Strömungen des säkularen und religiösen Zeitgeistes, Evangelikalismus und pfingstlich-charismatisches Christentum. Der studierte evangelische Theologe und Pfarrer hat eine Habilitation im Fach Systematische Theologie inne und war unter anderem wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt „Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ der Universitäten Frankfurt/M. und Gießen.
  • Ayşenur Aydın leitet die Fachstelle PREvent!on – Prävention von religiös begründetem Extremismus, Demokratie vor Ort der Jugendstiftung im Demokratiezentrum Baden-Württemberg. Sie ist Soziologin und arbeitet in den Feldern Antidiskriminierungsarbeit, interreligiöses Leben, Vielfalt und Extremismusprävention. Diese Kenntnisse setzt sie unter anderem als Dozentin in akademischen Einrichtungen sowie als Fachreferentin bei öffentlichen Veranstaltungen ein.

Fundamentalismus – die (anti)moderne Versuchung des Christentums

Im ersten Vortrag führte Dr. Martin Fritz in den christlichen Fundamentalismus aus einer theologisch-theoretischen Perspektive ein. Zuerst zeigte er die Ursprünge des christlichen Fundamentalismus auf, welche in das frühe 20. Jahrhundert in den USA zurückführen. Zwischen 1910 und 1915 fand das Wort Fundamentalismus erstmals Erwähnung in den Bänden „The Fundamentals – A Testimony to the Truth“, 1919 gründet sich die World Christians Fundamental Association. Einige Grundsätze dieser Vereinigung finden nach Martin Fritz bis heute Geltung in christlich fundamentalen Gruppen – so etwa würde, damals wie heute, eine kritisch-historische Bibelauslegung abgelehnt, Glaubensanhänger*innen sprächen sich für eine Verbalinterpretation der Bibel aus und sähen die Bibel als unfehlbar, irrtumslos und absolut vertrauenswürdig an. Zentral sei auch bis heute der Kreationismus, die Ablehnung der Darwin’schen Evolutionstheorie, als Prüfstein fundamentaler Gesinnung.

Im Anschluss geht Martin Fritz auf weitere Charakteristika ein. Neben der Unfehlbarkeit der Bibel scheint vor allem die Abgrenzung nach außen zentral. Während die Landeskirchen eine modernisierende Transformation in Anlehnung an den Pluralismus anstrebten, grenzten sich christlich fundamentale Gruppen strikt von (aktuellen) pluralistischen Positionen ab. Im Zuge dieser Abgrenzung setzten sich Anhänger*innen des christlichen Fundamentalismus auch der kritischen Vernunft entgegen und bemühten sich, sich durch Alternativerklärungen gegen jegliche Infragestellung abzusichern.

Neben diesen Merkmalen nennt Martin Fritz einige variable Zusatzmerkmale, wozu beispielsweise die Tendenz zu Rigorismus und Traditionalismus, eine Tendenz für autoritäre Leitungen oder ein Hang zur apokalyptischen Gegenwartsdeutung zählen. Letzteres verbunden mit der Vorstellung, Gott würde die Marginalisierung der Gläubigen in der ‚gottlosen Welt‘ bald beenden.

Unbeantwortet durch andere christliche Strömungen blieben diese christlich fundamentalen Bestrebungen jedoch nicht, so Martin Fritz, der in seinem Vortrag auch eine theologische Perspektive einbrachte. Personen mit einer liberaleren und historisch-kritischen Auslegungen des Glaubens sähen die fundamentale Auslegung der Bibel als nicht wahrhaftig und vertreten die Position, dass die zuvor genannte fundamentalistische Auslegung Gott seine Souveränität abspreche. Weiterhin sei eine fundamentale Auslegung eine subjektive Entscheidung, die daher auch keinen Wahrheitsanspruch besitze. Im Gegenteil, die mit ihrem Glaubensbekenntnis gewählte „Absonderlichkeit“ der Anhänger*innen stelle sich einem zeitgenössischem Wahrheitsbewusstsein entgegen. Letztlich führe die  Auslegung, laut Kritiker*innen, zu einer ständigen Angst vor Entlarvung und Ent-Täuschung und habe eine geistliche Verleumdung zur Folge.

Eine Aufzeichnung des Vortrags finden Sie in unserer Mediathek.

Christlicher Fundamentalismus – eine Praxisperspektive

In einem zweiten Vortrag widmete sich Ayşenur Aydın dem Thema christlicher Fundamentalismus aus der Praxisperspektive. Nach einer Vorstellung der von ihr geleiteten Fachstelle PREvent!on und einer Skizzierung der Merkmale des christlichen Fundamentalismus, berichtete sie von der praktischen Arbeit im Themenfeld. Aufgrund der regionalen Verankerung der Fachstelle, lag Schwerpunkt in ihrem Vortrag auf Baden-Württemberg.

Zunächst ging Ayşenur Aydın auf die Relevanz des Themas für die Praxis ein und bezog sich hier unter anderem auf die Querdenkerszene und Fälle von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Sowohl in der Querdenkerszene als auch in einigen Fällen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Baden-Württemberg bestehe ein Zusammenhang mit christlichem Fundamentalismus. Außerdem hätte es Fälle gegeben, in welchen Schüler*innen den Schulunterricht aus vermeintlich religiösen Motiven verweigerten. Daraufhin startete das Team von PREvention eine Recherche zu christlichem Fundamentalismus und schloss sich in einem weiteren Schritt mit der evangelischen Landeskirche Württemberg zusammen. Ziel war es, einen Workshop zur Einführung in das Thema zu konzipieren.

Im Zuge der Konzeption des Workshops setzte sich das Team unter anderem mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von christlichem Fundamentalismus und Islamismus auseinander. Neben einigen Gemeinsamkeiten wie etwa dem Antifeminismus und dem Othering (Abgrenzung zu Personen andere Gruppen, z. B. basierend auf religiöser Bekennung), zeige sich christlicher Fundamentalismus im Vergleich zu Islamismus als ein eher apolitisches Phänomen. Vordergründig seien die Dämonisierung und Demoralisierung, die christlich fundamentale Personen durch die Gesellschaft fürchten. Beim Islamismus hingegen sei die Abgrenzung zum Westen und Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen durch antimuslimischen Rassismus bekannter. Entsprechend seien ein treibender Faktor des Islamismus eben diese Ausgrenzungserfahrungen, während christlicher Fundamentalismus vor allem bei der Suche nach Sinnhaftigkeit und Identität helfe und der Angstbewältigung diene. Als letzten  Unterschied brachte Ayşenur Aydın noch die Gewaltbereitschaft an. Während vom Islamismus in Teilen eine größere Gewaltbereitschaft nach außen hin ausgehe, fände Gewalt bei christlich fundamentalen Gruppen vor allem in Form von Züchtigungen innerhalb der Gruppierungen Ausdruck.

Zuletzt brachte Ayşenur Aydın noch einige Praxishinweise an: Zur Prävention von christlichem Fundamentalismus seien alternative Freizeitangebote wie etwa Jugendtreffs hilfreich. Diese könnten, unter anderem, den interreligiösen Austausch fördern und so einer Abgrenzung einzelner religiöser Gruppierungen entgegenwirken. Allgemein betonte Ayşenur Aydın, dass einer Isolierung christlich fundamentaler Gruppen entgegengewirkt werden sollte, indem man mit Personen aus entsprechenden Kreisen den Dialog sucht. Dabei helfe auch ein offener Religions- und Ethikunterricht.

Darüber hinaus seien öffentlich wirksame Zeichen gegen christlichen Fundamentalismus hilfreich in der Präventionsarbeit. Dies könne etwa durch die öffentliche Aussprache gegen entsprechende Vorkommnisse oder die Solidarisierung mit Opfern erreicht werden. Gleichzeitig sollten geäußerte Probleme von christlich-fundamentalistischen Personen aber ernst genommen und aufgearbeitet werden. In der Arbeit mit christlich fundamentalen Personen sei außerdem die Frage nach dem „Wie wollen wir gemeinsam leben?“ eine zentrale Zielfrage.

 

Die Veranstaltung fand im Rahmen von KN:IX statt.

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